Die Lehre Jesu
reflektiert am jüdischen Religionsgesetz
Jesus
hielt sich eine Zeit lang am Jordan auf, wo sein Verwandter Johanan
die Leute zur Umkehr und Buße aufrief. Johanan verkündete
das endzeitliche Gericht und das bevor stehende
"Reich Gottes" und taufte die Umkehrwilligen. Jesus wandte sich alsbald
von dem Bußprediger und dessen Anhängerschaft ab und begann auf Straßen und Plätzen zu lehren.
Statt
der von Johanan geforderten Buße und Umkehr forderte er
pragmatische Klugheit, gegenseitige Verantwortung, vorausschauendes
soziales Denken und Handeln statt Gesetzesgehorsam und
Gehorsamsmoral.
Würde
sich diese Ethik in den Herzen auch nur weniger Menschen wirksam
realisieren, würde der Keim aufgebrochen und das "göttliche
Milieu" könnte sich aus kleinsten Ansätzen entfalten und
gesellschaftlich manifestieren. Jesus verglich den Keim und das sich
entfaltende Göttliche Milieu mit einem Senfkorn, aus dem sich ein
gewaltiger Baum entwickelt.
Göttliches
Wirken erklärte er im Bild väterlicher Fürsorge und
Barmherzigkeit, ohne dogmatische Indoktrination, ohne
religionsgesetzlichen Gehorsamszwang, ohne Straf- und Racheandrohung.
Den
von Tradition und Liturgie belasteten Begriff „Gott“ mied
er in seinen Lehrreden, an Stelle dessen sagte er
„Vater“ - Abba. Theologische Spekulationen, lehramtliche
Würde und elitäre Schriftgelehrsamkeit waren ihm
fremd. Er mied das Pronomen „Ich" und gebrauchte für seine Person statt
dessen das aramäische Idiom "Barnash, Menschensohn", im Sinne von "unsereiner" oder "man".
Die
Konfrontation Jesu mit dem Gottesstaat trat neben seine riskanten
Gesetzesinterpretationen ans Licht. Jesus hat sich nicht zu der
jüdischen Religion und
Tradition bekannt. Er verglich das gottesstaatliche
Traditionssystem mit alten Ziegenhäuten, die man als Wasser- und
Weinbehälter benutzte und sagte diese alten Schläuche würden die Gärung seines neuen, jungen Weines nicht
aushalten. Der junge Wein würde die alten morschen Schläuche
sprengen Wein und Behälter - kämen zu Schaden.
Die
Menschen, die Jesus zuhörten, durften wie auch er den
„ehrfurchtgebietenden“, den „unaussprechlichen“
Namen ihres Gottes, das Tetragramm JAHWE in ihren Gebeten nicht aussprechen. Die Anrufung Jahwes mit seinem Namen war allein dem
Hohepriester vorbehalten und auch ihm nur einmal im Jahr am
Versöhnungstag. An seiner Stelle las der Jude Adonai, “mein Herr”. Auch diese Anrede wurde bald nicht mehr benützt und durch die Abstraktion Himmel ersetzt, ein Wort, das im Hebräischen nur in der Zweizahl (Dual) vorkommt. Der Gebrauch von Himmel als Gottesnamen war den Römern so auffällig, daß sie die Juden ironisch coelicolae, das heißt „Himmelsanbeter” nannten.
Neben Himmel kannte man auch die Bezeichnung "Der Heilige", die mit dem Segensspruch "Gelobt sei Er "ergänzt wurde. Die ausgreifende Abstrahierung führte dazu, den verbotenen Jahwe-Namen auch mit den Begriffen „Der Ort“, „Die Kraft“ und insbesondere mit dem Ausdruck "Schechina, "Göttliche Gegenwart” zu interpretieren. Eine weitere
Stufe dieser Entwicklung zeichnete sich in der Übernahme des
Begriffs „Die Stimme Gottes“, und daraus schIießlich ma’amar oder memra „Wort“ ab, ein Begriff, der inhaltlich dem griechischen Logos entlehnt sein dürfte, der bei Heraklit im Sinne von Weltidee und bei Philos im Sinne von Weltvernunft gebraucht wurde.
Aus
diesen Gottesvorstellungen entwickelt Jesus konträr zum
jüdischen Religionsgesetz seine allgemeingültige Ethik, die
bestimmt wird von den Werten schlichter wie tief überzeugter
Frömmigkeit, sozialer Verantwortung und aufrichtiger Gesinnung.
Die Projektion einer Welt, die durch diese Werte neu geschaffen wird
und in und mit der sich der seit Urzeiten geglaubte Heilswille Gottes
konkretisiert nannte er Gottesreich.
Gesinnung kontra Gehorsam
Geradezu
eklatant und herausfordernd ließ es Jesus an dem gesetzlich
eingeforderten Gehorsam gegenüber allen Eckpunkten der judaischen
Tradition mangeln. Dieser Ungehorsam disqualifizierte ihn
zwangsläufig als Sünder und Frevler gegen die göttliche
Weisung (Thora) und damit als Verräter des Gottesstaates.
Das
Wort Gehorsam ist aus dem Munde Jesu bezeichnenderweise nicht zu
hören. Seine Gesinnungsethik kann auf dieses Folterinstrument
für die menschliche Freiheit in der Hand der Mächtigen
völlig verzichten.
Als
er einmal aus dem Hinterhalt gefragt wurde, welches denn das
größte Gebot sei, sagte er, das ganze Gesetz samt seiner
prophetischen Interpretation erschöpfe sich allein im Gebot der
Gottes- und Nächstenliebe. Von Gehorsam war da kein Wort.
Und
bei einer anderen Gelegenheit sagte er im Rahmen einer Unterweisung
über das soziale Zusammenleben der Menschen, das Gesetz und dessen
Kommentierung durch die Propheten erfülle sich bereits, wenn die
Leute stets so handelten, wie sie es auch von ihren Mitmenschen
erwarteten.
Das
war keine Gehorsamsmoral, das war Gesinnungsmoral. Gott lieben und die
Mitmenschen wie sich selbst und dazu die individuelle Erwartungshaltung
zur allgemeinen Handlungsmaxime zu erheben, das war die Ethik Jesu, mit
der er die Thoraorthodoxie relativierte.
Dort
wo diese Ethik das Leben der Menschen bestimmte, dort würden sie
frei und fähig, das göttliche Milieu zu entfalten.
Ethik kontra Gesetz
Der
Behauptung des jüdischen Professors Klausner, Jesus habe kaum eine
Maxime ausgesprochen, die dem Judentum von Grund aus fremd gewesen
wäre, ist prinzipiell nicht zu widersprechen.
Man
muss allerdings entgegenhalten, dass die Ethik Jesu in ihren
Grundzügen noch weitaus intellektueller und ausgeprägter von
Taoismus, Buddhismus und Vedantismus mitgetragen wird, als von der
judaischen Weisheit.
Jesus hat nicht behauptet, dass er der Erfinder von etwas Neuem sei. Er hat betont, das „Gesetz“
nicht aufheben sondern erfüllen zu wollen. Dass er damit nicht das
judaische Religionsgesetz gemeint haben konnte, von dem er sich
lossagte und dessen Missbrauch er anprangerte, liegt außer Zweifel.
Jesus
hat die allgemeine humane und religiöse Grund- und Gesinnungsethik
freigelegt, die in der alten Thora stellenweise zum Ausdruck kam, unter
der Last der erstarrten Gesetzesreligion jedoch verschüttet und
begraben wurde.
Er hat das unterwandernde Unkraut von
Überlieferungshörigkeit, Wortgläubigkeit und
Gehorsamsideolgie ausgerissen und den Boden bereitet, dass das in ihr
eingefaltete göttliche Milieu sich unter den Menschen kreativ
entfalten kann.
In
einer dem Alltag entliehenen Parabel schildert er die Freude, die er selbst empfunden haben mag, als er diesen verlorenen
Schatz wiederfand: Welche
Hausfrau, die 10 Drachmen hat und verliert eine davon (Ein Tageslohn),
zündet nicht sogleich ein Licht an, kehrt das Haus aus und sucht
alles sorgfältig ab, bis sie sie findet? Und wenn sie sie dann
gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen zusammen und
sagt: Ach, freut euch doch mit mir. Ich hatte ein Drachme verloren und
nun habe ich sie wieder.
Jesus
empfiehlt die Rückkehr oder die Umkehr zu der natürlichen
Grundethik, wie er sie in seiner Gesinnungsmoral und
Gesinnungsreligiosität lehrt und interpretiert. Sie sei ein
sanftes Joch, sagt er. Das heißt, sie ist unkompliziert,
unbelastend und erleichternd. Da er sie selbst lebte, konnte man sich
davon überzeugen und einladen lassen, mit ihm zu gehen und von ihm
zu lernen:
Nicht
gesten- und wortreich zur Schau gestellt spricht der Mensch mit Gott,
sondern in stiller, zurückgezogener Zwiesprache.
Nicht die Darbringung von Opfergaben, sondern die großherzige Entschuldung des Mitmenschen ist geweihtes Opfer.
Nicht eine herausposaunte Spende wird dem Herzen gerecht, sondern die stillen Wohltat.
Nicht das Töten ist das Verbrechen, sondern der Zorn schon, der das Herz vergiftet.
Nicht der faktisch vollzogene Ehebruch ist das Vergehen, sondern die Begehrlichkeit schon, die das Herz verdüstert.
Nicht
das Recht, Schadensausgleich zu fordern, ist dem Heil des
Geschädigten dienlich, sondern dem Schädiger zu dem
Genommenen noch hinzuzugeben, zeugt von rechter Gesinnung.
Nicht
den Feind zu hassen, sondern für den Feind bei Gott im Wort zu
stehen, entspricht dem Geist des göttlichen Milieus.
die Mittelsmänner Jahwes
Die zwischen Juden und Christen immer wieder aufflammende Frage: „Wer trägt die Schuld an Jesu Tod?“
kann mit dem folgenschweren Urteil des römischen Präfekten
Pontius Pilatus als oberste Rechtsinstanz in dieser Sache nicht beantwortet werden.
Der
römische Präfekt hat zwar - widerwillig und in keiner Weise
überzeugt - ein Urteil auf der Grundlage gefällt, Jesus habe
sich angeblicher Rechtsverfehlungen gegen die Interessen Roms zu
Schulden kommen lassen.
Dies
wurde ihm aber mit der unerbittlichen Forderung der geistlichen und
weltlichen Repräsentanten des judaischen Gottesstaates nach
Hinrichtung dieses Mannes angezeigt. Und die Berichte sind darin
eindeutig, dass die judäische Seite dem römischen
Amtsträger keinen Spielraum ließ.
Schroff, abweisend, unnachgiebig hat er sich von
tragenden Elementen des Gottesstaates distanziert. Er machte Front
gegen die allumfassende Gesetzesideologie, die jeden Ansatz ethischer
Entwicklung und spiritueller Religiosidetität erstickte.
Die
Vertreter des Systems, jener Gelehrten, die das Gesetz zu ihrem
Lebenszweck gemacht und zu einem immer undurchdringlicheren Geflecht
verdichtet hatten, machte er sich zu unnachsichtigen Feinden. Er nannte
sie eine Schlangenbrut, Heuchler, voller Raub und
Unmäßigkeit.
Blinde
Führer seien sie, die wohl aus ihrer Suppe die Mücke fischen,
das Kamel darin aber verschlucken. Er sagte, sie sorgten sich darum,
vor den Leuten gesetzestreu zu erscheinen, in ihrem Inneren aber seien
sie potentielle Heuchler und Gesetzlose.
Er
warf den Männern des frommen Scheins schonungslos Betrug und
Verantwortungslosigkeit den Menschen gegenüber vor und
unermessliche Gier. Anis- und Kümmelkörnchen wögen sie
penibel für die Tempelsteuer ab, klagte er sie an, die
wesentlichen Dinge, Recht, Barmherzigkeit und Treue aber hatten
bei ihnen kein Gewicht.
Sie
reinigten rituell das Äußere von Becher und Schüssel,
ihren Raub und ihre Gier aber ließen sie unberührt. So
riß Jesus dem frömmelnden Establishment die Maske vom
Gesicht. Gekalkte Gräber seien sie, außen rein und
weiß, innen voller Knochen und Schmutz.
Alexander Paffrath