DURST

Alles, was der Mensch mit seinen Sinnen wahrnimmt, erstrebt und meidet, gehört „der Welt der For­men, Gestaltungen, und Erscheinungen“ an. Diese aber sind unterbrochenem Wandel und dem Prozeß ständigen Werdens und Vergehens unterworfen, nicht von Dauer und ohne Bestand.
Somit sind die verlockenden Aspekte von Glück und Wohlsein und alle Visionen von Harmonie und Frieden inner­halb einer selbst geschaffenen perfekten Menschenwelt Illusion.

Die der „Welt der Formen, Gestaltungen und Erscheinungen“ innewohnende Flüchtigkeit reizt den Menschen zu ihrer Überwindung durch dynamisch eskalierende Perfek­tion technischer Medien und Instrumente, der Wissenschaften und durch eine bis zur Ausschweifung gesteigerten Befriedigung seiner Sinne und Bedürfnisse. Immer unumschränkter formt die Jagd nach Wohlsein und Genuß, Ruhm, Ehre, Macht, Einfluß und Herrschaft das menschliche Leben. Als dessen absolute Maxime hat der Mensch Glück,  das heißt das Höchstmaß an Lust, Be­friedigung aller Wünsche oder subjektiven Bedürfnisse zur absoluten Essenz seiner Existenz erklärt.

Dem „Durst“ danach verfallen, fügt er, um sich zu berauschen, jeder vitalen und mentalen Funktion künstlich geschaffene Bedürfnisse hinzu, die über alles natürlich bedingte Maß hinausge­hen, ungeachtet dessen, daß das psychisch-somatische System aus dem natürlichen Gleichgewicht gerät, und  die Sinnes-, Wahrnehmungs- und Reizorgane an ihrer maßlosen Überforderung erkranken. Je mehr aber ihre Fähigkeiten Genuß zu vermitteln verschleißen, um so intensiver und dynamischer werden sie durch immer neue Erlebnis-, Bedürfnis- und Genußreize stimuliert.

Wird aber der „Durst“ nach Glück, Genuß und Wohlsein nicht gestillt, die Erfül­lung des Begehrens gehemmt oder verhindert, was im  menschlichen Zusammenleben, bei der Verflech­tung in die natürlichen Prozesse und bei der sich ständig wandelnden und wechselnden Gesamtkonstitution des Individuums unvermeidlich ist, dann brechen traumatische Urängste des Verlorenseins des aus der Natur in seine Welt der Projektionen Verbannten ungefiltert hervor. Das Individuum sieht sich mit der janusköpfigen Kehrseite seiner Illusionen von Glück, Genuß und Wohlsein, konfrontiert. Mit depressiver Beengung und unüberwindlicher Begrenzung tritt ihm das Schemen "Schicksal" entgegen.

Und was der Mensch auch unternimmt, den Schatten seiner illusionären Projektionen zu entgehen, schlägt fehl. Dem hybriden Postulat, der von der Natur emanzipierte, gottgewollte Herr des Lebens zu sein, steht das letztendlich unbesiegbare physische und psychische Vergehen alles dessen, was er tut und ist entgegen. Die zum absoluten Ideal erhobenen indi­viduellen  Rechte und Freiheiten sind in dem Maß, in dem sie sich dem Bewußtsein erschließen, nichts als das Kalkül der vom Menschen selbst geschaffenen, weltweit agierenden Megamaschinen der Politik, Militär- und Finanzadministration. Die  Freiheit in Denken und Han­deln, als höchstes individuelles Menschenrecht verbrieft, ist zum Manipulationsobjekt subversiv agierender Industrie-, Staats- und Medienapparate verkommen. Ideologische, materielle, industrielle und wissenschaft­liche Fortschrittsfelder sind Quellorte für ökologische, soziale, ethische und ethnische Gefahren- und Katastrophenereignisse.

So ist die Welt der menschlichen Projektionen eine dualistische Welt, eine Welt der Spaltungen und Einseitigkeiten. Nichts befindet sich in der künstlichen Menschenwelt im Gleichgewicht natürlicher Kräfte, der Kräfte des natürlichen Ausgleichs. Glück und Genuß stehen in Wechselwirkung zu Egoismus, Selbstsucht und Habgier. Und diese müssen mit direkter und indirekter Beraubung, Unterdrückung und Unterwerfung, also mit dem Leid und Unglück anderer, sei es Mensch oder Tier, und mit der Zerstörung materieller Ressourcen am Leben gehal­ten werden.

Es erweist sich durchgängig, daß jede Sinnes- Willens- und Triebbefriedigung, alles was dem sinnlichen Wahrnehmungsvermögen des Menschen, seinem Zugriff und seiner Manipulation zugänglich ist, unbeständig ist und unbeherrschbarer gegensätzlicher Begrenzungen unterliegt. Die sich feindselig gegenüberstehenden antagonistisch-polaren Gegensätze des Anfangs und des Endes, des Aufstiegs und Abstiegs, des Aufgangs und des Untergangs, des  Werdens und Vergehens, der Lust und des Leids, der Liebe und des Hasses, des Geborenwerdens und Sterbens, des Lebens und des Todes, sind aus dualistischer Weltdefinition  unüberwindlich, da sie sich gegenseitig bedingen und voraussetzen.

Die unausweichliche Konsequenz der total illusionären Auslieferung des Ich-bewußten an die uni­versale Vergänglich­keit, an die Flüchtigkeit und Unbeständigkeit der Welt der sinnlichen Wahrnehmungen und Empfindun­gen an Personen, Ereignisse und Erfahrungen ist Leid. Denn „Was unbeständig ist, ist leid­voll.“ Das sagt der Buddha. Und ein Blick auf die menschliche Gesellschaft bestätigt dies: Je dynamischer die Geld­herrschaft und die Wirtschaftsprozesse sich hin zu allgemeinem und sozialen Wohlstand entfalten und das Leben des Individuums konsumtiv beeinflussen, je intensiver ethnische, nationale und religiöse Perspektiven sich ideologisch etablieren, desto notorisch unglück­licher, einsamer, von ungewissen Ängsten gequälter, deprimierter und abhängi­ger sind die menschlichen Individuen, desto destruktiver entwickeln sich die gesellschaftlichen Beziehungen bis in die Abgründe individueller Kriminalität und krie­gerischer Auseinandersetzungen der Völker. 

In dem selben Zeitraum einhergehend mit fürchterlichsten Kriegen, Vernichtungen und in Wechselwirkung mit diesen hat der Mensch die Naturgesetze überschritten. Und die entsetzliche Dynamik weiterer Umwälzungen und Entwicklungen steht erst am Anfang.

Der sinnenorientierte menschliche Antagonismus bürgt dafür, daß jeden „Segen“ ein „Fluch“ gleicher Quantität und Qualität begleitet. Das ist das Verhängnis von Maya.


Alexander Paffrath


Sekundärliteratur - Grundlagenliteratur:  

Reden und Lehre des Buddha; 

Das Neue Testament; 

Swami Vivekananda 

Vedanta - Ozean derWeisheit“;  

Erich Fromm: „Haben und Sein“ 

Lexikon für Theologie und Kirche; 

„Der Spiegel“ - Ausgabe 52/1999

 Bayerischer Rundfunk; Katechismus der Katholischen Kirche Nr. 358 - 

Zitation des Johannes Chrysosto­mus, serm in Gen 2