AntikDigital 080421

Karma

Alles, was der Mensch mit seinen Sinnen wahrnimmt, erstrebt und meidet, gehört „der Welt der For­men, Gestaltungen, und Erscheinungen“ an. Diese aber sind dem ununterbrochenen Wandel und dem Prozeß ständigen Werdens und Vergehens unterworfen, nicht von Dauer und ohne Bestand.[1] Somit sind die verlockenden Aspekte von Glück und Wohlsein und alle Visionen von Harmonie und Frieden inner­halb einer selbst geschaffenen perfekten Menschenwelt Illusion.

Die der „Welt der Formen, Gestaltungen und Erscheinungen“ innewohnende Flüchtigkeit reizt den Menschen zu ihrer Überwindung durch dynamisch eskalierende Perfek­tion technischer Medien und Instrumente, der Wissenschaften und durch eine bis zur Ausschweifung gesteigerten Befriedigung seiner Sinne und Bedürfnisse. Immer unumschränkter formt die Jagd nach Wohlsein und Genuß, Ruhm, Ehre, Macht, Einfluß und Herrschaft das menschliche Leben. Als dessen absolute Maxime hat der Mensch Glück,  das heißt das Höchstmaß an Lust, Be­friedigung aller Wünsche oder subjektiven Bedürfnisse zur absoluten Essenz seiner Existenz erklärt.

Dem „Durst“[2] danach verfallen, fügt er, um sich zu berauschen, jeder vitalen und mentalen Funktion künstlich geschaffene Bedürfnisse hinzu, die über alles natürlich bedingte Maß hinausge­hen, ungeachtet dessen, daß das psychisch-somatische System aus dem natürlichen Gleichgewicht gerät, und  die Sinnes-, Wahrnehmungs- und Reizorgane an ihrer maßlosen Überforderung erkranken. Je mehr ihre Fähigkeiten Genuß zu vermitteln verschleißen, um so intensiver und dynamischer werden sie durch immer neue Erlebnis-, Bedürfnis- und Genußreize stimuliert.

Wird aber der „Durst“ nach Glück, Genuß und Wohlsein nicht gestillt, die Erfül­lung des Begehrens gehemmt oder verhindert, was im  menschlichen Zusammenleben, bei der Verflech­tung des Menschenlebens in die natürlichen Prozesse und bei der sich ständig wandelnden und wechselnden Gesamtkonstitution des Individuums unvermeidlich ist, dann brechen traumatische Urängste des Verlorenseins des aus der Natur in seine Welt der Projektionen Verbannten ungefiltert hervor. Das Individuum sieht sich mit der janusköpfigen Kehrseite seiner Illusionen von Glück, Genuß und Wohlsein, konfrontiert. Mit depressiver Beengung und unüberwindlicher Begrenzung tritt ihm das Schemen "Schicksal" entgegen.

Und was der Mensch auch unternimmt, den Schatten seiner illusionären Projektionen zu entgehen, schlägt fehl. Dem hybriden Postulat, der von der Natur emanzipierte, gottgewollte Herr des Lebens zu sein, steht das letztendlich unbesiegbare physische und psychische Vergehen alles dessen, was er tut und ist entgegen. Die zum absoluten Ideal erhobenen indi­viduellen  Rechte und Freiheiten sind in dem Maß, in dem sie sich dem Bewußtsein erschließen, nichts als das Kalkül der vom Menschen selbst geschaffenen, weltweit agierenden Megamaschinen der Politik, Militär- und Finanzadministration. Die  Freiheit in Denken und Han­deln, als höchstes individuelles Menschenrecht verbrieft, ist zum Manipulationsobjekt subversiv agierender Industrie-, Staats- und Medienapparate verkommen. Ideologische, materielle, industrielle und wissenschaft­liche Fortschrittsfelder sind Quellorte für ökologische, soziale, ethische und ethnische Gefahren- und Katastrophenereignisse.

So ist die Welt der menschlichen Projektionen  eine dualistische Welt, eine Welt der Spaltungen und Einseitigkeiten. Nichts befindet sich in der künstlichen Menschenwelt im Gleichgewicht natürlicher Kräfte, der Kräfte des natürlichen Ausgleichs. Glück und Genuß stehen in Wechselwirkung zu Egoismus, Selbstsucht und Habgier. Und diese müssen mit direkter und indirekter Beraubung[3], Unterdrückung und Unterwerfung[4], also mit dem Leid und Unglück anderer, sei es Mensch oder Tier, und mit der Zerstörung materieller Ressourcen am Leben gehal­ten werden.

Es erweist sich durchgängig, daß jede Sinnes- Willens- und Triebbefriedigung, alles was dem sinnlichen Wahrnehmungsvermögen des Menschen, seinem Zugriff und seiner Manipulation zugänglich ist, unbeständig ist und unbeherrschbarer gegensätzlicher Begrenzungen unterliegt. Die sich feindselig gegenüberstehenden antagonistisch-polaren Gegensätze des Anfangs und des Endes, des Aufstiegs und Abstiegs, des Aufgangs und des Untergangs, des  Werdens und Vergehens, der Lust und des Leids, der Liebe und des Hasses, des Geborenwerdens und Sterbens, des Lebens und des Todes, sind aus dualistischer Weltdefinition  unüberwindlich, da sie sich gegenseitig bedingen und voraussetzen.

Die unausweichliche Konsequenz der total illusionären Auslieferung des Ich-bewußten an die uni­versale Vergänglich­keit, an die Flüchtigkeit und Unbeständigkeit der Welt der sinnlichen Wahrnehmungen und Empfindun­gen, an Personen, Ereignisse und Erfahrungen ist Leid. Denn „Was unbeständig ist, ist leid­voll.“ Das sagt der Buddha. Und ein Blick auf die menschliche Gesellschaft bestätigt dies: Je dynamischer die Geld­herrschaft und die Wirtschaftsprozesse sich hin zu allgemeinem und sozialen Wohlstand entfalten und das Leben des Individuums konsumtiv beeinflussen, je intensiver ethnische, nationale und religiöse Perspektiven sich ideologisch etablieren, desto notorisch unglück­licher, einsamer, von ungewissen Ängsten gequälter, deprimierter und abhängi­ger sind die menschlichen Individuen, desto destruktiver entwickeln sich die gesellschaftlichen Beziehungen bis in die Abgründe individueller Kriminalität und krie­gerischer Auseinandersetzungen der Völker.

Der große jüdische Charismatiker Jeschu ben Joseph[5] verbietet kompromißlos den Griff zum Schwert und warnt, daß, wer zum Schwert greife um zu leben, eben durch das Schwert sterbe. Der Theologe Augustinus aber widerspricht seinem „Gott"(!), verweist auf die „ordo naturalis“ (die natürliche Ordnung) und befürwortet den Krieg, indem er zwischen „gerechten“ und „ungerechten“ Kriegen unterscheidet. „Gerechte“ Kriege seien ausschließlich von der „Obrigkeit“ zu führen. Ziel und damit Merkmal „gerechter“ Kriege sei „Wohlergehen, Gerechtigkeit und Friede“.[6] Folgerichtig hat es der Mensch fertiggebracht, allein im zwanzigsten Jahrhundert - nur in seinen Kriegen (gerecht? ungerecht?) - über 100.000.000 seiner eigenen Spezies bestialisch umzubringen, von den Zahllosen körperlich und seelisch Gefolterter, ihrer Existenz Beraubter, Verstümmelter und Verjagter ganz zu schweigen. Und: 300.000 der von der „Obrigkeit“ bestellten „Kriegstäter“ sind derzeit Kinder!

In dem gleichen Zeitraum, einhergehend mit ihren fürchterlichsten Kriegen und in Wechselwirkung mit diesen haben die Menschen die Grenzen des bisher im Rahmen der Naturgesetze, der Mathematik und der Materialbeherrschung Vorstellbaren überschritten. Innerhalb weniger Jahrzehnte scheint der Mensch die Zielschwelle der Evolution überschritten und sie selbst in seine furchtbare Gewalt gebracht zu haben. Und die entsetzliche Dynamik weiterer Umwälzungen und Entwicklungen steht erst am Anfang.

Der sinnenorientierte menschliche Antagonismus bürgt dafür, daß jeden „Segen“ ein „Fluch“ gleicher Quantität und Qualität begleitet. [i]



[1] Gothama Siddharta - genannt Der Buddha

[2] Schlüsselbegriff Buddhas

[3] RessourcenKriege

[4] moderne Hegemonialkriege

[5] Jesus von Nazareth, genannt Der Christus

[6] LHTK, Band 6,Spalte 640



[i] Sekundärliteratur und Informationsquellen: Reden und Lehre des Buddha; Das Neue Testament; Swami Vivekananda - „Vedanta - Ozean der Weisheit“;  Erich Fromm: „Haben und Sein“ Lexikon für Theologie und Kirche;  „Der Spiegel“ - Ausgabe 52/199,  Bayerischer Rundfunk; Katechismus der Katholischen Kirche Nr. 358