Antikdigital
Zitat aus
Ralf Waldo Emmerson
Schicksal & Ausgleich
Den Rahmen unseres Schicksals dürfen wir nicht wählen.
Des Rahmens Inhalt aber geben wir.
UNO Generalsekretär Dag Hammarskjöld
Schicksal
Wir machen trotzdem Pläne
Alles gehört zu einem System
Mit der Geburt schließt sich das Tor der Gaben
Zwei Dinge sind zu berücksichtigen Das Buch der Natur
Die Gesetze des Rückschlages
Was uns einengt, nennen wir Schicksal
Ein Teil des Schicksals ist die Freiheit
Die Kraft des Gedankens
Daß Mensch und Wille eins werden
Können, das die Gefahr bezwingt
Mißgeschick ist zugleich ein Ansporn
Was einer tut, ist ein Teil seines Wesens
Die Ereignisse vergrößern sich mit dem Charakter
Ein Gesetz steht über allem
Ausgleich
Andere Maßstäbe für Gut und Böse
Der Dualismus in der Natur
Die Theorie von den mechanischen Kräften
Die Welt spiegelt sich in einem Tautropfen
Die Natur korrigiert unsere Handlungen
Die Taten richten sich auf die Pole der Welt aus
Über die Arbeit wachen unerbittliche Gesetze
Liebe und du wirst wieder geliebt werden
Stärke erwächst aus unserer Schwäche
Immer ist eine dritte Partei zugegen
Die Bedeutungslosigkeit der Umstände
Leben ist ein Fortschreiten
Wir machen trotzdem Pläne
Wie sollen wir leben? - Können wir uns doch nur unserer eigenen
Polarität unterwerfen. Wir machen Pläne und ziehen unsere
Bahn, ungeachtet dessen, daß wir uns einer unausweichlichen Macht
beugen müssen. Wir unterliegen alle einer unwiderstehlichen
Fügung und müssen unser Schicksal hinnehmen. Trotzdem sind
wir verpflichtet, die Freiheit, die Bedeutung des Indivi-duums, den
Anspiuch der Pflicht und die Eigenart des Charakters zu bejahen. Das
eine ist ebenso gegeben wie das andere. Mit unseren geistigen
Fähigkeiten vermögen wir die Gege-benheiten nicht in vollem
Umfange zu erfassen und die oft schwerverständlichen
Zusammenhänge miteinan¬der in Verbindung zu bringen. Was
können wir tun? Indem wir beiden Richtungen, unserer Gebundenheit
einerseits und unseren eigenen Bestrebungen anderer¬seits, zu
folgen versuchen und an jeder Saite zupfen, vielleicht sogar
reißen, spüren wir zuletzt die höhere Kraft und
schließlich erwacht in uns die Hoffnung, die erkannten
Gegebenheiten miteinander in Einklang bringen zu können.
Große Menschen und große Völker haben die
Schrekken des Lebens erkannt und versucht, ihnen beherzt
entgegenzutreten: Der Spartaner, für den Religion und Vaterland
gleich bedeutend waren, starb ohne Vorbe¬halt. Der Türke
glaubt, sein Schicksal werde im Augenblick seiner Geburt auf ein
ehernes Blatt ge¬schrieben. Türken, Araber, Perser nehmen das
vorbestimmte Schicksal hin; der Hindu ist in auswegloser Lage
ebenso standhaft. Die griechische Tragödie vertritt die
gleiche Ansicht: Was vom Schicksal bestimmt ist, wird eintreffen. Gegen
den großen, unermeßlichen Geist des Gottes Zeus
läßt sich nicht verstoßen.
Alles gehört zu einem System
Wir müssen einsehen, daß die Welt rauh und unfreundlich
ist und sich nichts daraus macht, ob ein Mann oder eine Frau ertrinkt,
ob ein Schiff in die Tiefe hinabgezogen wird wie ein Staubkorn.
Krankheiten und Elemente nehmen auf Menschen keine Rücksicht.
Das Schicksal ist oft rücksichtslos. Die Mordlust der
Schlange und der Spinne, der Biß des Tigers und anderer
Raubtiere, die ihre Beute im Sprünge packen - dies alles
gehört zu einem System; wir Menschen machen es wie sie. Mitschuld
ist überall vorhanden, eine Art lebt auf Kosten der anderen.
Vielfältig sind die Beispiele von Grausamkeit, die in der Natur
waltet. Wir können es nicht einfach leugnen. Die Vorsehung nimmt
einen ungestümen, rauhen, unberechenbaren Weg zu ihrem Ziel. Es
wäre falsch, ihre unermeßlichen, widersprüchlichen
Hilfsmittel in einem günstigen Licht darzustellen. Man mag
einwenden, daß Unfälle, von denen die Menschheit bedroht
ist, Ausnahmen seien, und daß man nicht täglich mit einer
Katastrophe zu rechnen brauche. Was einmal geschehen ist, kann sich
wiederholen, und solange wir diesen Naturereignissen nicht zu
begegnen vermögen, müssen wir mit ihnen rechnen. Aber solche
Erschütterungen und Vernichtungen stören uns weniger als
die unsichtbare Kraft anderer Gesetze, die täglich auf uns
einwirken: Der Schnabel des Vogels, der Schädel der Schlange
bestimmen mit unausweichlicher Gewalt den Spielraum, der diesen Tieren
zugemessen ist. Das Gleiche gilt von den verschiedenen Stufen der
Rassen, von den Temperamenten, es gilt vom Geschlecht, vom Klima,
es gilt von der Auswirkung der Talente, die die Lebenskraft in
verschiedener Art und Weise beeinflussen. Jeder Geist schafft sich sein
Haus, aber nachher setzt das Haus dem Geist seine Schranken. Wie soll
ein Mensch seinen Vorfahren entrinnen, wie soll er aus seinen Adern den
dunklen Tropfen loswerden, der ihm vom Leben seines Vaters oder seiner
Mutter überkam? Oft ist es in einer Familie, als ob alle
Eigenschaften der Vorfahren in verschiedene Krüge gefüllt
wurden. Jeder Sohn oder jede Tochter des Hauses hat eine besonders
hervorstechende gute oder schlechte Eigenschaft geerbt - und zuweilen
hat sich das unvermischte Temperament, die völlig
ungemilderte Eigenart, das Familienlaster in einem einzelnen
angestaut, und die anderen blieben im Gegensatz zu ihm davon verschont.
Wir beobachten zuweilen einen Ausdruck im Gesicht eines Freundes und
sagen, er sei dem Vater oder der Mutter oder auch einem entfernten
Verwandten „wie aus dem Gesicht geschnitten“.
Häufig verkörpert ein Mensch verschiedene Eigenschaften
seiner Vorfahren, und diese Eigenarten geben die Akkorde für das
neue Musikstück, für sein Leben.
Mit der Geburt schließt sich das Tor der Gaben
Die Menschen sind das, wozu ihre Mütter und Väter sie gemacht
haben. Sobald der Mensch den Leib der Mutter verläßt,
schließt sich das Tor der Gaben weitgehend hinter ihm. Seine
Zukunft ist bereits in seinen Gehirnwindungen vorausbestimmt, sie wird
in seinem Gesicht, in seinen Augen, in seiner Gestalt sichtbar. Alle
Privilegien und alle Gesetze der Welt können nicht dazu verhelfen,
einen Dichter oder einen Fürsten aus ihm zu machen. Jesus sagte
einmal: ,,Wenn er sie anschaut, hat er bereits die Ehe gebrochen." Aber
auch ehe er nur das Weib angeschaut hat, ist er bereits ein Ehebrecher
durch die in seiner Natur vorherrschende animalische Lebenskraft
und wegen seines begrenzten Überlegungsvermögens. Wer
zuweilen ihn oder sie beobachtet, der spürt, daß jeder von
beiden reif ist, des anderen Opfer zu werden. Bei gewissen Menschen
machen die Ernährung und das geschlechtliche Bedürfnis den
überwiegenden Lebensinhalt aus, und je ausgeprägter diese
Veranlagungen sind, um so schwächer ist das Individuum. Viele
Männer und Frauen sind nichts weiter als nur noch ein Paar mehr.
Ab und zu bildet sich in einem Hirn eine neue Zelle oder eine Kammer,
eine Begabung für Architektur oder Musik oder für Philologie,
ein zufälliger Geschmack oder ein Talent für Blumen oder
Chemie, für Farben oder Erzählungen, eine geschickte Hand zum
Zeichnen, ein geübter Fuß zum Tanzen, ein athletisch
gebauter Körper für weite Entdeckungsreisen usw. - alles
Geschicklichkeiten, die in den Gegebenheiten der Natur keineswegs
Änderungen hervorbringen, sondern nur dazu dienen, die Zeit
zu vertreiben, während das Leben seinen alten Gang weiter
geht. Schließlich gewinnen diese Veranlagungen und Neigungen
in einem Menschen feste Gestalt, oder auch in mehreren
aufeinanderfolgenden Generationen. Jeder verbraucht so viel Nahrung und
Kraft, wie er benötigt, um seinen Lebensbereich auszufüllen.
Das neue Talent verbraucht die Lebenskraft in einem solchen Maße,
daß nicht genug für die animalischen Verrichtungen
übrig bleibt, kaum genug für eine stabile Gesundheit. Nicht
selten kommt es vor, daß, wenn z. B. die gleiche hervorstechende
Begabung in der zweiten Generation auftritt, sich die Gesundheit
sichtlich verschlechtert und daß sogar die Zeugungskraft
nachläßt. Die Menschen haben von Geburt an entweder einen
vordergründigen Hang zum Moralischen oder zum Materiellen -, zu
Zwillingsbrüdern, deren Ziele in entgegengesetzten Richtungen
liegen. Mir scheint, daß die Schlußfolgerungen aller
morgen- und abendländischen Gedankengänge in dem Satz des
Philosophen Schelling zusammengefaßt werden können:
,,In jedem Menschen lebt ein bestimmtes Gefühl, daß er das,
was er ist, von Ewigkeit an gewesen ist und es nicht erst in der Zeit
wurde." Oder einfacher ausgedrückt: in der Geschichte des
einzelnen Menschen sind stets seine Anlagen in Betracht zu ziehen,
und er weiß selbst, daß sein gegenwärtiger Zustand ihm
weitgehend vorgegeben ist.
Zwei Dinge sind zu berücksichtigen
Zwei Dinge sind maßgebend: Die Kraft und die Umstände.
Alles, was wir nach allen bisherigen Entdeckungen vom Ei wissen,
ist, daß es sich um Zellen handelt; und wenn wir nach
fünfhundert Jahren einen besseren Beobachter oder vielleicht ein
noch besseres Beobachtungsglas haben werden, so findet er in der
zuletzt entdeckten Zelle wiederum eine neue Zelle. Mit dem pflanzlichen
und tierischen Gewebe ist es genau das gleiche. Alles, was die
ursprünglich schaffende Zeugungskraft hervorbringt, sind Zellen
und immer wieder Zellen. Dazu kommen die tyrannischen, die bestimmenden
Umstände! Eine neue Zelle unter neuen Umständen. Eine Zelle,
so meinte der Naturforscher und Philosoph Lorenz Oken (1779-1851), die
in der Finsternis ruhte, entwickelte sich zu einem Tier; wenn sie ins
Licht kam, zu einer Pflanze. In dem sie beherbergenden lebenden Wesen
macht die Zelle Veränderungen durch, die schließlich
wunderbare Fähigkeiten in ihr enthüllen, während sie
selber ihr Wesen behält. Sie entwickelt sich zu einem Fisch, Vogel
oder Vierfüßler, zu Kopf oder Fuß, zu Auge oder Klaue.
,,Umstände" bedeutet: Natur. Zwei Dinge sind für uns
zwingend: die natürlichen Umstände und das Leben.
Ursprünglich glaubten wir, daß die positive Kraft alles sei.
Nun erfahren wir, daß die negativen Kräfte oder die
Umstände die halbe Natur sind: der tyrannische Umstand, der dicke
Schädel, das Futteral in dem die Schlange steckt, die schwere
steinharte Kinnlade; eine Kraft, die sich bestätigen muß;
eine notgedrungene, vorgegebene Richtung. Eigenschaften eines
Werkzeuges, die aus dessen Wesen entspringen: wie z. B. eine
Lokomotive auf ihren Geleisen recht stark ist, aber außerhalb des
Schienenstranges nur Unheil anrichten kann; ebenso wie Schlittschuhe
auf dem Eise Flügel, auf dem Lande aber Fesseln sind.
Das Buch der Natur
Das Buch der Natur ist das Buch des Schicksals, unseres Schicksals. Sie
wendet die riesigen Blätter um - Blatt für Blatt - aber
niemals blättert sie zurück. Ein Blatt legt sie nieder, eine
Grundlage von Granit; dann tausend Zeitalter und eine Schicht Schiefer;
tausend weitere Zeitalter und ein Kohleflöz; noch tausend
Zeitalter und eine Lager Mergel und Lehm; Pflanzenformen erscheinen;
die ersten seltsamen Tiere, Tier- pflanzen, Fische, dann Saurier,
plumpe Gestalten, in denen die Natur nur die Vorgänger für
ihre späteren Schöpfungen erkennen läßt. Die
Oberfläche des Planeten kühlt sich ab und wird trocken, die
Rassen verbessern sich, der Mensch wird geboren. Aber wenn eine Rasse
ihre Zeit gelebt hat, kommt sie nicht wieder. Die Wertskala der Arten
und die Stetigkeit, womit die eine Art aufsteigt und die andere
absteigt, ist so gleichmäßig wie die
Übereinanderlagerung von geologischen Schichten. Ein anderes Glied
dieser stählernen Fessel, dieser nicht zu verleugnenden
Erkenntnisse ist die Statistik. Es entspricht einem Gesetz, daß
die zufälligsten und außerordentlichsten Ereignisse, wenn
man nur eine hinreichend große Bevölkerungsmenge statistisch
zu Grunde legt, sich durch Hochrechnungen vorausbestimmen lassen. Zwar
läßt sich nicht mit Sicherheit sagen, wann ein Feldherr wie
Napoleon Bonaparte oder eine Sängerin wie Jenny Lind geboren
werden müßte, aber für eine Bevölkerung von
zwanzig oder zweihundert Millionen lassen sich durchaus gewisse
Vorausberechnungen anstellen. Es ist müßig und pedantisch,
den Zeitpunkt einzelner Erfindungen ermitteln zu wollen. Sie alle sind
fünfzig mal und mehr wieder erfunden worden. Der Mensch ist die
,,Urmaschine", und jede von ihm hergeleitete Mechanik ist nur ein
Modell derselben. Der Mensch behilft sich, indem er seinen eigenen Bau
nachahmt oder vervielfältigt. Ohne Zweifel wird sich in jeder
Million von Menschen ein bedeutender Astronom, ein Mathematiker, ein
Dichter, ein Mystiker finden. Niemand kann die Geschichte der
Astronomie lesen, ohne festzustellen, daß Kopernikus, Newton,
Laplace nicht neue Männer oder eine neue Art von Personen sind,
sondern daß Anaximenes, Pythagoras und andere ihnen
vorausgingen; jeder von ihnen hatte den gleichen ausgeprägten
geometrischen Sinn, der der gleichen großen Rechenkunst und Logik
fähig war.
Die Gesetze des Rückschlages
Und ebenso sicher wirken sich die - Gesetze des Rückschlages aus,
die Strafen für den mißbräuchlichen Gebrauch unserer
Organe. Hungersnot, Typhus, Frost, Krieg, Selbstmord, Erschöpfung
der Rassen, all diese Gegebenheiten müssen wir zu den
berechenbaren Teilen des Weltsystems zählen. Dies alles sind
Teilchen des Berges, Andeutungen der Grenzen, von denen unser Leben wie
von einer Mauer umschlossen ist; sie zeigen uns, daß bei den
sogenannten zufälligen Ereignissen eine Art mechanische
Genauigkeit waltet, ähnlich wie bei einem Webstuhl oder einer
Mühle. Die Kraft, die wir den natürlichen Gesetzen
entgegenstellen können, ist offensichtlich so
unzulänglich, daß es kaum auf mehr herauskommt als auf einen
Protest oder auf eine Kritik eines einzelnen gegen die Macht von
Millionen. Mir ist, als sähe ich im Wüten eines Sturmes
Menschen über Bord gehen, die mit den Wogen kämpften und bald
hierhin und bald dorthin geworfen wurden. Sie sind sich der Gefahr
bewußt und sehen sich nacheinander um, aber sie können
nichts füreinander tun. Es ist schon viel, wenn sich jeder selber
über Wasser halten kann. Ihre hilfesuchenden Blicke sind
ergreifend, alles übrige ist Schicksal. Wir können diese
Wirklichkeit, dieses Keimen in den von uns bepflanzten Gärten der
Welt nicht als etwas Unwesentliches behandeln. Kein Abbild des Lebens
ist wahr, das nicht auch die unerfreulichen Tatsachen wiedergibt. Die
Kraft des Menschen ist von Grenzen eingeschlossen, an die er mit seinen
Versuchen auf allen Seiten anstößt, bis er lernt, wo diese
Begrenzungen sind.
Was uns einengt, nennen wir Schicksal
Das in der ganzen Natur spürbare Element, das wir gemeinhin
Schicksal nennen, ist uns als Beschränkung bekannt. Alles, was uns
einengt, nennen wir Schicksal. Wenn wir roh und barbarisch sind, nimmt
das Schicksal eine rohe und fürchterliche Gestalt an. In dem
Maße, in dem wir uns verfeinern, werden auch die
Widerstände, die uns Einhalt gebieten, geschmälert. Wenn wir
uns zu geistiger Kultur erheben, nimmt auch der Widerstand geistige
Formen an. In der indischen Fabel folgt Wischnu der Maja durch alle
ihre sie empor entwikkelnden Verwandlungen, vom Insekt und Krebs
bis zum Elefanten; gleich welche Gestalt sie auch annahm, er nahm die
männliche Gestalt desselben Geschöpfes an, bis sie zuletzt
Weib und Göttin wurde und er Mann und Gott. Die
Beschränkungen werden erträglicher, je reiner die Seele wird,
über allem aber steht immer der Sieg der Notwendigkeit. Als die
Götter der Germanen nach der Legende nicht imstande waren, den
Fenriswolf mit Eisen oder mit dem Gewicht der Berge zu fesseln - das
Eisen durchbiß er und die Berge stieß er mit dem Fuß
zur Seite - schlangen sie ein dünnes Band um sein Bein, das
weicher als Seide oder Spinnengewebe war. Und dieses hielt ihn fest: je
mehr er mit den Beinen um sich schlug, desto fester zog es sich um ihn.
So fein und dennoch so stark sind die Bande des Schicksals. Nichts kann
den Menschen aus diesen feingesponnenen Fesseln befreien. Wenn wir der
Symbolik der Dichter folgen, so steht sogar der Gedanke nicht über
dem Schicksal; auch er muß sich ewigen Gesetzen fügen. Und
zu allerletzt, hoch über den Gedanken, erscheint in der
moralischen Welt das Schicksal als Beschützer, der das Hohe
erniedrigt und das Niedrige erhebt, vom Menschen Gerechtigkeit verlangt
und stets, früher oder später, zuschlägt, wenn die
Gerechtigkeit notleidet. Was nützlich ist, wird fortbestehen; was
schädlich ist, wird zugrunde gehen. ,,Wer handelt, muß
leiden“, sagten die Griechen. ,,Du möchtest einer Gottheit
schmeicheln, die sich nicht schmeicheln läßt“,
erklärten sie. Kein menschlicher Verstand vermag die gesetzte
Grenze zu überschreiten und in letzter Konsequenz sind auch der
Verstand und die Freiheit des Willens Bestandteile dieses vorgegebenen
Rahmens. Wir sahen die Spuren des Schicksals in der Materie, im Geist
und in der Moral, ebenso in den Rassen, in den unendlichen
Zeiträumen der Schichtenbildung, im Gedanken und im Charakter.
Überall stießen wir auf Grenzen und Beschränkungen. Das
unergründliche Schicksal ist das eine, die unbegrenzte Kraft
das andere Faktum der zweigeteilten Welt. Wenn das Schicksal auf die
Kraft einwirkt und sie beschränkt, so begleitet und bekämpft
andererseits die Kraft das Schicksal. Wir müssen das Schicksal als
das Maßgebende der natürlichen Entwicklung anerkennen, aber
es gibt mehr als diese. Der Mensch ist nicht nur ein
kreatürliches Geschöpf, Bauch und Glieder, ein Ring in
der Kette, sondern auch eine erstaunliche Vereinigung von
Widersprüchen: in ihm stoßen die Pole des Weltalls
aufeinander. Er kann nicht seine Verwandtschaft zu den unter ihm
stehenden Geschöpfen verhehlen, er ist ein schlecht bekleideter
Vierfüßler, der sich mit Mühe und Not zum
Zweifüßler aufgeschwungen hat und für seine neuen
Kräfte mit dem Verlust einiger alter Fähigkeiten bezahlen
mußte. Aber das Feuer, das hervorbricht und den Planeten die
Gestalt gibt, das Planeten und Sonnen schafft, ist auch in ihm. Auf der
einen Seite die elementare Ordnung: Sandstein und Granit,
Felsschichten, Moor, Wald, Meer und Strand, auf der anderen Seite: der
Gedanke, der Geist, der die Natur bildet und zersetzt - hier existieren
sie Seite an Seite und spiegeln sich wider im Auge und im Gehirn des
Menschen.
Ein Teil des Schicksals ist die Freiheit
Der freie Wille des Menschen kann bei dieser Betrachtung nicht
übergangen werden. Zum Widerspruch ist Freiheit die Voraussetzung.
Wer sagt, Schicksal ist alles, dem halten wir entgegen: ein Teil des
Schicksals ist die Freiheit des Menschen. Denn immer fühlt sich
die Seele dazu getrieben, zu wählen und zu handeln. Der Intellekt
steht dem Schicksal entgegen. Sofern ein Mensch denkt, ist er frei.
Allerdings ist nichts unsinniger, als wenn sklavische Naturen -
wie viele Menschen es sind - laut von Freiheit reden. Ebenso
lächerlich ist der landläufige Irrtum von Leuten, die niemals
zu denken oder zu handeln gewagt haben, irgend ein Stück Papier,
wie z. B. eine Unabhängigkeitserklärung oder ein
verfassungsmäßiges Stimmrecht mit Freiheit zu
verwechseln. Dagegen steht es dem Menschen gut an, wenn er nicht nur
auf das Schicksal sieht, sondern auch in die andere Richtung blickt, in
die geistige, in die für ihn praktisch wertvollere. Die richtige
Einstellung diesen Gegebenheiten gegenüber ist, sie zu
nutzen, sich nicht vor ihnen bedingungslos zu beugen. Zu sehr auf
die Begrenzungen zu achten, führt zu sklavischer Gesinnung.
Menschen, die zu viel von Bestimmung, ihrem Geburtsstern und solchen
Dingen sprechen, ziehen das Unheil an, das sie fürchten. Ich
erwähnte eingangs den unbeirrbaren Glauben an eine vorgegebene
Bestimmung, der instinktbegabten, heldenmütigen Völkern eigen
ist, er paßt zu ihnen, eine sympathische Ergebung in das
Schicksal zeichnet sie aus. Aber die gleiche Glaubenseinstellung wirkt
ganz anders, wenn Schwache und Träge sich zu ihr bekennen.
Schwache und unbeherrschte Menschen schieben die Schuld generell auf
das Schicksal. Rechten Gebrauch von unseren Gaben und Anlagen, und
damit von unserem Schicksal, machen wir, wenn wir unsere
Lebensführung der Erhabenheit der Natur anpassen. Hart und
unbesiegbar, nur durch sich selbst zu besiegen, sind die Elemente. So
sei auch der Mensch. Er befreie sich selbst von seinen Anfechtungen und
zeige seine Überlegenheit durch seine Haltung und sein Handeln. Er
bleibe bei seinen Vorsätzen, als ob die Schwerkraft ihm Halt
gäbe. Keine Gewalt, keine Überredung, keine Bestechung sollte
ihn dazu bringen, von seinem Standpunkt abzugehen. Ein Mensch sollte
seines Charakters wegen mit einem Fluß, einer Eiche oder einem
Berg verglichen werden können: Strömung,
Widerstandskraft, Elastizität seien ihm so eigen wie jenen. Das
Beste am Schicksal ist, daß es uns eine fatalistische Einstellung
lehrt. Trotze dem Feuer auf hoher See oder der Krankheit im Hause
deines Freundes oder sonstigen Gefahren, die dir auf dem Wege der
Pflicht begegnen und wisse, daß du vom Engel des Geschickes
behütet wirst. Wenn du hinsichtlich des Bösen an das
Schicksal glaubst, warum solltest du nicht auch im Guten daran glauben.
Wenn das Schicksal so übermächtig ist, so bildet auch der
Mensch einen Teil davon und kann dem Schicksal das Schicksal
gegenüberstellen. Wenn das Weltall uns mit so ungestümen
Angriffen bedroht, so sind unsere Kräfte auch für den
Widerstand gerüstet. Wir würden von dem Druck der
Atmosphäre zerquetscht werden, wenn nicht die Luft in unserem
Körper einen Gegendruck bilden würde. Eine Röhre, die
aus dünnem Glas gemacht wurde, kann dem Anprall des Ozeans
widerstehen, wenn sie mit demselben Wasser gefüllt ist. Wenn
sich die Allmacht im Schlag zeigt, so ist ebenso auch Macht im
Gegengewicht.
Die Kraft des Gedankens
Ab er Schicksal gegen Schicksal zu setzen, bedeutet nur Abwehr und
Verteidigung; darüber hinaus gibt es noch die gewichtigen
schöpferischen Kräfte. Die Kraft des Gedankens führt den
Menschen aus der Knechtschaft in die Freiheit. Mit Recht sagt man, wir
seien geboren, seien später wieder geboren und noch viele Male
danach geboren. Wir machen nach und nach Erfahrungen, die so
bedeutsam sind, daß die neuen Erkenntnisse die alten
allmählich vergessen lassen: daher stammt die mythologische
Vorstellung von den sieben oder neun Himmeln, die wir aus den alten
Legenden kennen. Der große Tag unseres Lebens ist der, an dem
sich das innere Auge öffnet und die Einheit aller Dinge, die
Allgegenwart der Gesetzmäßigkeit gewahrt: sieht, daß
alles, was ist, sein muß und so sein muß - oder anders
ausgedrückt - das Bestmögliche ist. Diese Seligkeit senkt
sich von oben herab auf uns nieder, und wir sehen. Wenn die Luft in
unsere Lungen dringt, so atmen und leben wir; wenn nicht, so sterben
wir. Wenn das Licht auf unser Auge fällt, so sehen wir,
andernfalls nicht; und wenn die Wahrheit zu unserem Geiste kommt, so
wachsen wir über uns hinaus. Wir spüren das Gesetz und
fühlen uns als ein Teil der Natur, wir erahnen die
Zusammenhänge. Alle Dinge werden von dieser Erkenntnis
berührt und verändert. Wo sie leuchtet, ist die Natur nicht
mehr gefährlich, sondern alle Dinge hinterlassen einen
musikalischen oder malerischen Eindruck. Die Menschenwelt
erscheint uns wie ein Komödienhaus, in dem aber nicht gelacht
wird: Bevölkerungen, Interessengruppen, Re-gierungen,
Weltgeschichte - alles sind Puppenfiguren in einem Puppenhaus. Diese
Einsicht hilft uns, einzelnen Ereignissen keinen
übermäßigen Wert beizulegen. Was wir anstreben, ist das
Majestätische, zu dem wir aufblicken, das Erhabene, die
Überwindung selbst-süchtiger Regungen, die Sphäre ewiger
Gesetze. Vorher stolperten wir ein Stück dieses Weges entlang, und
ein Stück eines anderen. Nunmehr sind wir wie Ballonfahrer und
denken weniger an den Punkt, den wir verlassen haben oder an das Ziel,
- zu dem wir wollen, als an die Freiheit und die wunderbare Weite des
Weges. Soviel Intellekt, wie du einsetzt, soviel organische Kraft
gewinnst du. Wer den Plan durchschaut, hat den Überblick und
will von sich aus, was sein muß. Wenn die Seele zu einer gewissen
Klarheit gelangt, so gewinnt sie ein Wissen und eine Haltung, die
über die Selbstsucht erhaben ist. Der Gedanke löst das
materielle Weltall auf, indem er den Geist in eine Sphäre erhebt,
wo alles klarer wird.
Daß Mensch und Wille eins werden
Wenn der Gedanke frei macht, so gilt das gleiche auch von dem
sittlichen Gefühl. Die Wandlungen der geistigen Welt lassen sich
schwer analysieren. Dennoch können wir feststellen, daß mit
der Erkenntnis der Wahrheit der Wunsch verbunden ist, ihr zum Siege zu
verhelfen. Dieses Streben ist dem Willen verwandt. Mehr noch, wo ein
starker Wille in Erscheinung tritt, entspringt er einer Einheit, einer
Tatkraft, die gleichermaßen von Leib und Seele ausgeht. Jede
große Kraft ist wirklich und elementar. Ein starker Wille
läßt sich nicht künstlich erzeugen. Um einem Gewicht
ein Gegengewicht zu bieten, muß ein anderes Gewicht vorhanden
sein. Die uneigennützige Sympathie für die Zwecke der
Allgemeinheit ist eine unbegrenzte Kraft und läßt sich nicht
bestechen oder erkaufen. Wer jemals das sittliche Gefühl erkannt
hat, dem bleibt keine Wahl, er muß an eine unbegrenzte Kraft
glauben. Ich weiß nicht, was das Wort ,,erhaben" anderes bedeuten
könnte, als daß ein Mensch die Ahnung von einer
ungewöhnlichen Kraft empfindet. Aber Erkenntnis ist noch nicht
zugleich Wille, und auch Liebe ist nicht Wille. Erkenntnis ist
nüchtern, und Güte erstirbt in Wünschen. Diese beiden
Kräfte müssen zusammen-strömen, um die Energie des
Willens entstehen zu lassen. Eine treibende Kraft kann nur dadurch
erzeugt werden, daß Mensch und Wille eins werden, so daß er
den Willen hat und der Wille ihn. Wir dürfen getrost behaupten,
daß niemand irgend eine Wahrheit richtig erfaßt hat, wenn
sie sich nicht auf ihn so stark auswirkt, daß er bereit ist, sich
für sie zu opfern. Das einzige Ernsthafte und Gewaltige in der
Natur ist ein Wille. Die Gesellschaft ist gemeinhin knechtischen
Sinnes, weil ihr der Wille fehlt, und deshalb braucht die Welt
Erlöser und Religionen. Ein bestimmter Weg erscheint als der
richtige. Der Held sieht ihn, geht auf das Ziel los und verankert ihn
in der Welt und stützt sich auf sie. Können, das die
Gefahr bezwingt
Auch gegen die Begrenzung ist nichts zu sagen, wenn wir wissen,
daß sie der Maßstab für den wachsenden Menschen ist.
Wir stehen dem Schicksal gegenüber, wie sich Kinder im Elternhaus
an die Wand stellen und von Jahr zu Jahr ihre Größe durch
einen Strich markieren. Aber wenn der Knabe zum Mann herangewachsen und
selbst Hausherr ist, dann reißt er diese Wand nieder und baut
eine größere. Es ist lediglich eine Frage der Zeit. Jeder
gesunde Jüngling bemüht sich, den inneren Dämon zu
bezähmen und zu lenken. Seine Leistung besteht darin, aus diesen
Leidenschaften und hemmenden Kräften Waffen und Flügel
werden zu lassen. Wir sahen bisher nur diese beiden Dinge, Schicksal
und Kraft. Verwandtschaften und Zusammenhänge sind aber nicht
irgendwo und nur gelegentlich, sondern überall und immer
vorhanden. Die göttliche Ordnung hört nicht an der Grenze
auf, bis zu der das menschliche Auge reicht. Wo die Menschen keine
Erfahrung besitzen, rennen sie gegen diese Kraft an und verletzen sich.
So ist also das Schicksal eine Bezeichnung für Tatsachen, die noch
nicht durch das Feuer des Gedan-kens hindurch gegangen sind, für
Ursachen, deren Wesen von uns noch nicht erkannt wurde. Jeder Ausbruch
des Chaos, das uns zu vernichten droht, läßt sich durch den
Intellekt in eine heilsame Kraft umwandeln. Schicksal bedeutet
unerkannte Ursachen. Das Wasser verschlingt Schiff und Schiffer
wie Staubkörnchen. Aber lerne schwimmen und dein Boot im
Gleichgewicht zu halten, und die Welle, die es verschlingen wollte,
wird von ihm durchfurcht werden und es tragen wie ihren eigenen Schaum.
Früher starben jährlich mehr Menschen durch Typhus als durch
Kriege. Die richtige Beseitigung der Abwässer bezwang den
Typhus. Skorbut, das Übel der Seeschiffahrt, wurde durch
Zitronensaft und andere Nahrungsmittel überwunden. Die
Entvölkerung durch die Cholera und durch die Blattern wurde durch
hygienische Maßnahmen und Schutzimpfungen behoben. Und jede
andere Epidemie gehört genauso zur Kette von Ursache und Wirkung
und läßt sich bekämpfen. Das Können, das die
Gefahr bezwingt, bringt in der Regel sogar noch Vorteile mit sich. Der
Unheil anrichtende Wildbach muß für die Menschen arbeiten,
indem er das mahlende Mühlrad antreibt. Die wilden Tiere werden
dadurch nutzbar, daß sie Nahrung und Kleidung liefern oder Arbeit
leisten. Chemische Explosionen hält der Mensch unter
Kontrolle wie den Gang seiner Uhr.
Mißgeschick ist zugleich ein Ansporn
Der Mensch muß auch für seine Schwächen dankbar sein
und sich vor seinen Talenten bisweilen in Acht nehmen. Ein
übergroßes Talent zehrt unter Umständen an seinen
Kräften, eine Schwäche kann sich andererseits auch
positiv für ihn auswirken. Wenn für uns das Schicksal
zugleich Goldader und Steinbruch ist, wenn aus dem Übel Gutes
entsteht, wenn Beschränkung sich in Kraft umwandelt, wenn Unheil,
Widerstände und Lasten in Wirklichkeit zu Flügeln und
Hilfsmitteln werden - dann sind wir mit dem Schicksal ausgesöhnt.
Das Schicksal bedeutet zugleich eine Verbesserung aus sich heraus.
Keine Theorie kann Sinn und Verstand haben, wenn sie nicht die
Entwicklung zum Höheren anerkennt. Jedes Mißgeschick ist
zugleich ein Ansporn und eine wertvolle Erfahrung, und wo
Bemühungen noch nicht völlig zum Ziele führen, so
zählen sie doch als ein Streben. Aber um zu erkennen, wie
Schicksal in Freiheit übergeht und Freiheit in Schicksal,
muß man erfahren, wie tief die Wurzeln eines jeden
Geschöpfes reichen, und schwerlich wird man einen Punkt finden, wo
es keine verbindenden Verästelungen gibt. Unser Leben ist
anpassungsfähig und hat weitreichende Urwurzeln. Der
geheimnisvolle Knoten der Natur ist so geschickt geknüpft,
daß noch niemals ein Mensch klug genug war, die beiden Enden zu
finden. Alle Teile der Natur greifen ineinander, sie sind verworren,
verschlungen und unübersehbar. Jede Zone hat ihre eigene Fauna. Es
findet ein Ausgleich statt zwischen dem Tier und seiner Nahrung,
seinen Schmarotzern und seinen Feinden. Das Gleichgewicht bleibt stets
gewahrt, sofern es der Mensch nicht zerstört. Die Zahl darf weder
verringert werden, noch das Maß überschreiten. Dieses Gesetz
des Ausgleichs gilt ebenso für den Menschen.
Was einer tut, ist ein Teil seines Wesens
Das Geheimnis der Welt ist die Verbindung zwischen
Persönlichkeiten und Ereignissen. Die Persönlichkeit bewirkt
das Ereignis, das Ereignis formt die Persönlichkeit. Die
Zeit, das Jahrhundert, - was bedeutet das anderes als ein paar
tiefgründige und ein paar tatkräftige Menschen. Wir
haben Grund anzunehmen, daß Menschen, Zeiten und Ereignisse
genauso zueinander passen, wie die Geschlechter zueinander oder eine
Tierart zu ihrer Nahrung. Der Mensch hält sein Schicksal deshalb
für etwas Fremdes, weil ihm das alles verknüpfende Band
verborgen ist. Aber die Seele birgt bereits das Ereignis, das auf
sie zukommen wird; denn das Ereignis ist nur die Verwirklichung der
Gedanken und das, was uns selbst vorschwebt, wird immer gewährt.
Das Ereignis paßt zu uns wie unsere Haut. Was einer tut, das iSt
ein Teil seines Wesens. Die Ereignisse sind die Kinder seines Leibes
und seiner Seele. Wir erkennen, daß die Seele des Schicksals
unsere Seele ist. Hafis, der Dichter, sang: ,,Ach! jetzt erst wird
mir's klar: Mich lenkt derselbe Führer, der das Schicksal lenkt."
Aller Tand, der die Menschen betört und um den sie spielen -
Häuser, Land, Geld, Luxus, Macht, Ruhm - er ist und bleibt der
gleiche, nur durch einen oder mehrere Schleier verhüllt. Und bei
all dem Trommelgerassel, durch das die Menschen willig gemacht werden,
sich die Köpfe zu zerschlagen, ist das Seltsame, daß man uns
glauben machen kann, die Ereignisse seien rein zufällig und hingen
nicht von gewollten Handlungen ab. Bei der Vorführung des
Zauberkünstlers bemerken wir das Haar, mittels dessen er seine
Puppen bewegt; aber um den Faden zu erkennen, der Ursache und Wirkung
verknüpft, dazu sind unsere Augen oft nicht scharf genug.
Die Ereignisse vergrößern sich mit dem Charakter
Mit einer geheimnisvollen Macht paßt die Natur den Menschen
seinem Geschick an, indem sie es von seinem Charakter abhängig
macht. Enten wählen das Wasser, Adler den Himmel,
Wattvögel den Strand, Jäger den Wald, Schreiber das
Kontor, Soldaten die Grenze. Die Lust am Leben entspricht dem Menschen,
der es lebt. Das Leben ist eine Verzückung. Wir wissen, welcher
Wahn der Liebe eigen sein kann, welche Fähigkeit, einen
gewöhnlichen Umstand mit Himmelsfarben auszumalen. Jedes
Geschöpf bringt seine Lebensbedingungen und seinen
Wirkungskreis aus sich selbst hervor. Der Mensch wird seinen Charakter
in den Ereignissen erkennen, die ihm scheinbar begegnen, in
Wirklichkeit aber von ihm ausgehen und ihn begleiten. Die
Ereignisse erweitern sich mit dem Charakter. Wie er früher
von seinen Spielsachen umgeben war, so spielt er jetzt eine Rolle in
größeren Systemen und sein Wachstum offenbart sich in seinem
Ehrgeiz, in seinen Gefährten und in seinen Leistungen. Sein Leben
sieht aus wie ein Stück Zufall, aber es ist ein Stück
Ursächlichkeit: so wie das Mosaiksteinchen zurecht geschlagen und
geschliffen wird, bis es in die Lücke paßt, die es
auszufüllen hat. Weltgeschichte ist die Wirkung und die
Rückwirkung der zwei Faktoren: Natur und Geist. Alles schiebt oder
wird geschoben und so spielen Materie und Geist beständig Wippen
und halten sich das Gleichgewicht. Solange der Mensch lebt, nimmt die
Erde ihn in Beschlag. Mit der Hilfe seines Gehirns und seiner
Begabungen bemächtigt er sich allmählich der Erde und legt
nach der Ordnung und der Schöpferkraft seines Geistes Gärten
und Weinberge an. Die Männer, die in einem gleichen Zeitraum
auftreten, erweisen sich als miteinander verwandt. Gewisse Ideen liegen
in der Luft. Empfänglich für sie sind wir alle, denn wir
bestehen aus ihnen. Anfällig dafür sind wir alle, einige mehr
als die anderen und diese verleihen ihnen dann zuerst Ausdruck. So
erklärt sich das seltsame zeitliche Zusammentreffen von
Erfindungen und Entdeckungen. Die Wahrheit liegt in der Luft und
der beweglichste Geist wird sie zuerst verkünden. Die Moral
davon ist, daß wir finden werden, was wir suchen und daß
uns flieht, dem wir fliehen. Goethe sagte: ,,Was in der Jugend wir
wünschen, das wird uns im Alter die Fülle". So wird unserem
Gebet nur zu oft auch der Fluch des Gewährens zuteil. Deshalb ist
große Vorsicht geboten, nur um Wesentliches zu bitten. Einen
Schlüssel, eine Lösung gibt es für die Geheimnisse
des menschlichen Daseins, eine Lösung der ewig verschlungenen
Knoten von Schicksal, Freiheit und Vorauswissen, nämlich die These
vom doppelten Bewußtsein. Der Mensch muß abwechselnd
auf den Pferden seiner innerlichen und seiner äußerlich
wahrnehmbaren Natur reiten, so wie die Zirkusreiter sich gewandt von
einem Pferd auf das andere schwingen oder mit dem einen Fuß auf
dem Rücken des einen Pferdes, mit dem anderen auf dem Rücken
des anderen Tieres stehen. So muß auch der Mensch, wenn er das
Opfer seines Schicksals ist, sich wieder aufrichten an dem Gedanken,
daß er mit dem All verwandt ist und daß diesem sein Leiden
zugute kommt. Er muß sich vom leidenden Dämon abwenden und
sich auf die Seite der Gottheit stellen, die durch sein Leiden für
das Wohl der Gesamtheit sorgt. Um die uns niederdrückenden
Hemmschuhe von unserer Gemütslage und Konstitution
abzuschütteln, müssen wir uns die Erkenntnis aneignen,
daß infolge der sinnreichen, gleichzeitigen Anwesenheit der
beiden Elemente in der ganzen Natur alles, was uns lähmt oder
hemmt, zugleich die Gottheit erkennen läßt, die in irgend
einer Weise Ausgleich dafür gewährt.
Ein Gesetz steht über allem
Laßt uns der gesegneten Einheit Altäre erbauen, die die
Natur und die Seelen in vollkommener Lösung birgt, die jedes Atom
zwingt, einem Zweck des Weltalls zu dienen. Ich staune nicht nur
über eine Schneeflocke, über eine Muschelschale, eine
Sommerlandschaft oder den Glorienschein der Sterne, wohl aber über
die Schönheit, die für das ganze Weltall zwangsläufig
ist - daß alles malerisch ist und sein muß, daß der
Regenbogen und der Bogen des Horizontes und die Wölbung der
blauen Himmelskuppel sich nur aus der Konstruktion des menschlichen
Auges ergeben. Mich brauchen keine übereifrigen Naturliebhaber
darauf aufmerksam zu machen, einen Blumengarten zu be wundern oder
eine vom Sonnenschein vergoldete Wolke oder einen Wasserfall, denn ich
kann meine Augen ja nicht öffnen, ohne nicht überall Glanz
und Anmut zu sehen. Laßt uns ebenso der schönen
Notwendigkeit Altäre bauen: Wenn wir dächten, daß der
Mensch in dem Sinne frei sei, daß auch nur in einem einzigen
Ausnahmefall ein phantastischer Wille dem Gesetz der Dinge gebieten
könnte, so wäre das genau so, als ob eines Kindes Hand die
Sonne vom Himmel herabreißen könnte. Wenn ein Mensch auch
nur in der geringsten Kleinigkeit die Ordnung der Natur in Unordnung
bringen könnte, wer möchte dann das Geschenk des Lebens
empfangen? Laßt uns der schönen Notwendigkeit Altäre
bauen, die uns die Gewähr gibt, daß alles aus einem
Stück geschaffen ist, daß Kläger und Angeklagter,
Freund und Feind, Mensch und Tier, Essen und Esser, von einer Art sind.
In der Astronomie gibt es ungeheure Weltenräume, aber kein fremdes
System; in der Geologie sind ungeheure Zeiträume, aber stets
galten dieselben Gesetze, die noch heute herrschen. Warum sollten
wir uns vor der Natur fürchten, die die verkörperte
Philosophie und Theologie zugleich ist. Warum sollten wir uns
fürchten vor grausamen Elementen zerschmettert zu werden, da
wir doch aus denselben Elementen geschaffen sind? Laßt uns der
schönen Notwendigkeit Altäre bauen, die den Menschen tapfer
durch den Glauben macht, daß er keiner Macht ausweichen und von
keiner bedroht werden kann, die ihm nicht vorbestimmt ist, der
Notwendigkeit, die ihn mit milder oder rauher Hand zu der Erkenntnis
hinführt, daß es keine Zufälle gibt; daß in allem
Dasein ein Gesetz herrscht, ein Gesetz, das nicht geistig, sondern der
Geist selbst ist. Das weder persönlich noch unpersönlich ist,
das keine Worte braucht und unbegreiflich ist, das die Einzelwesen
auflöst; das die Natur belebt - und doch alle, die reinen Herzens
sind, anregt, nach all seiner Allmacht zu streben.
Andere Maßstäbe für Gut und Böse
Schon seit meiner Jugend trug ich mich mit der Absicht, eine Abhandlung
über den Ausgleich zu schreiben. Denn schon damals war ich der
Ansicht, daß auf diesem Gebiet das Leben der Theologie
überlegen sei und das Volk mehr wisse, als die Prediger lehren. Es
schien mir auch, daß in dieser Lehre der Menschheit ein Strahl
des Göttlichen das gegenwärtige Wirken der Seele dieser Welt,
frei von jeder Überlieferung, offenbart und so das Herz des
Menschen mit einem großen Maß von ewiger Liebe erfüllt
wird, wenn er sich mit dem beschäftigt, was von Anfang war und
ewig sein wird. Überdies schien es mir, daß diese Lehre,
wenn sie die rechten Worte fände, in vielen dunklen Stunden und
mißlichen Lebenslagen ein leuchtender Stern sein würde, der
uns vor Verwirrungen bewahren könnte. In dieser Absicht wurde ich
schließlich durch eine Predigt bestärkt. Der Geistliche
entwickelte in der üblichen Weise die Lehre vom jüngsten
Gericht. Er nahm an, daß eine Abrechnung nicht in dieser Welt
stattfindet; daß die Gottlosen erfolgreich sind; und dann
schloß er aus der Vernunft und aus der Schrift, daß beiden
Parteien im nächsten Leben ein Ausgleich zuteil werden würde.
Die Gemeinde schien an dieser Lehre keinen Anstoß zu nehmen. Die
Zuhörer gingen nach der Beendigung des Gottesdienstes
auseinander, ohne Bemerkungen über die Predigt zu machen. Doch was
bedeutete diese Lehre? Was wollte der Prediger damit sagen, daß
die Guten in diesem Leben unglücklich sind? Meinte er, daß
Menschen ohne Grundsätze Häuser, Ländereien, Ämter,
Wein, Pferde, Kleider, Luxus besitzen, während die Guten in Armut
und Verachtung leben müssen; und daß den letzteren
schließlich ein Ausgleich dadurch zuteil werde, daß ihnen
dieselben Wohltaten zu einer anderen, späteren Zeit erwiesen
werden? Der folgerichtige Schluß, den ein Anhänger dieser
Lehre daraus ziehen würde, wäre der, uns stehen im Jenseits
ebenso gute Tage bevor, wie sie die Sünder jetzt genießen.
Der Trugschluß hierbei lag in der überraschenden
Annahme, daß die Bösen erfolgreich sind, daß eine
gerechte Vergeltung im Diesseits nicht bestehe. Der Irrtum des
Geistlichen bestand darin, daß er sich hinsichtlich des Wesens
des Erfolges der billigen Tagesmeinung anschloß, anstatt der Welt
die Wahrheit vorzuhalten und die Gegenwart der Seele zu
verkünden, die Allmacht des Willens, und auf diese Weise den
Maßstab für Gut und Böse, für den Erfolg und Trug
zu setzen.
Der Dualismus in der Natur
Der Polarität oder der Wirkung und Gegenwirkung begegnen wir
überall in der Natur: im Dunkel und im Licht, in Hitze und
Kälte, in Ebbe und Flut, im Männlichen und Weiblichen, im
Einatmen und Ausatmen der Pflanzen und Tiere, in dem Ausgleich
zwischen Quantität und Qualität, in der Systole und
Diastole des Herzens, in der Wellenbewegung der Flüssigkeiten und
des Schalles, in der zentrifugalen und zentripetalen Kraft, in der
Elektrizität, im Galvanismus und in den chemischen
Verwandtschaften. Macht man das eine Ende einer Nadel magnetisch, so
wird das andere Ende sofort den Magnetismus der entgegengesetzten Art
ausweisen. Wenn der Süden anzieht, stößt der Norden ab.
Was man hier leer macht, muß man andererseits verdichten. Ein
unvermeidlicher Dualismus durchdringt die Natur, so daß ein
jedes Ding nur eine Hälfte darstellt und ein anderes zu seiner
Ergänzung voraussetzt, wie z. B. der Geist den Stoff, der Mann das
Weib, gerade und ungerade, subjektiv und objektiv, innen und
außen, oben und unten, Bewegung und Ruhe, ja und nein. Wie die
Welt, so zeigt auch jedes ihrer Teile diesen Dualismus. Das ganze
System der Dinge wiederholt sich in jedem kleinsten Teilchen. In jeder
Fichtennadel, in jedem Gerstenkörnchen, in jedem tierischen Wesen
findet sich etwas, das mit Ebbe und Flut, mit Tag und Nacht, mit Mann
und Weib Ähnlichkeit hat. Die in den Elementen so gewaltige
Gegenwirkung wird innerhalb dieser engen Grenzen wiederholt.
Naturforscher ha-ben beobachtet, daß z. B. im Tierreich keine
Geschöpfe bevorzugt sind, sondern ein gewisser Ausgleich jeden
Vorzug und jeden Mangel im Gleichgewicht hält.
Die Theorie von den mechanischen Kräften
Die Theorie von den mechanischen Kräften ist ein weiteres
Beispiel. Was wir an Kraft gewinnen, verlieren wir an Zeit und
umgekehrt. Die periodischen oder ausgleichenden Abweichungen der
Planeten bieten ein drittes Beispiel. Die Einflüsse von Klima und
Boden ein viertes. Demselben Dualismus unterliegt die Natur und die
Situation des Menschen. Jedes Übermaß bewirkt einen Mangel,
jeder Mangel ein Übermaß. Jedes Süße hat sein
Bitteres, jedes Übel sein Gutes. Auf den Mißbrauch einer
jeden Gabe, die uns Freude verschafft, ist eine gleich hohe Buße
gesetzt. Auf Mäßigung beruht alles Leben. Jedem
Körnchen Geist entspricht ein Körnchen Torheit. Für
jedes Ding, das du entbehrt hast, hast du etwas gewonnen; und für
jedes Ding, das du gewinnst' verlierst du etwas. Wenn Reichtum
wächst, mehren sich die, die sich seiner bedienen. Wenn der
Sammler zuviel anhäuft, so nimmt die Natur selbst ihm das, was sie
ihm gibt; sie vergrößert sein Vermögen, aber sie
tötet den Besitzer. Die Natur haßt Monopole und Ausnahmen.
Die Wogen des Meeres glätten sich nicht schneller, als die
Verschiedenheiten der Verhältnisse nach dem Gleichgewicht
streben. Da finden sich immer ausgleichende Umstände, die den
Überheblichen, den Starken, den Reichen, den vom Glück
Begünstigten auf die Ebene der übrigen
zurückführen. Der Landwirt hält Macht und Rang für
erstrebenswerte Dinge. Aber auch der Präsident hat für seinen
Platz teuer bezahlen müssen. Er hat ihm seinen Frieden und die
besten seiner Eigenschaften gekostet. Um für eine kurze Zeit eine
hervorragende Rolle in der Welt zu spielen, muß er von den
wirklichen Machthabern, die hinter seinem Thron stehen, zu Kreuze
kriechen. Oder wünschen sich die 35 Menschen vielleicht die
realistischere und bleibendere Größe des Genius? Auch sie
hat keine bleibenden Vorrechte. Was sich durch die Kraft des Willens
oder des Geistes hervortut und Tausende überragt, hat auch die
Last dieser Größe zu tragen. Mit jedem neuen Licht der
Erkenntnis kommt auch neue Gefahr. Ist wirklich Licht in ihm, so
muß er davon immer Zeugnis ablegen jener Sympathie wegen, die ihm
ein stolzes Gefühl der Befriedigung verleiht, und das er
schließlich doch zu verlieren lernt. Dieses unabänderliche
Gesetz bewirkt die Gesetze der Städte und Völker. Es ist
vergeblich, dagegen anzukämpfen oder dagegen zu intrigieren. Die
Dinge hassen es, lange schlecht verwaltet zu werden. Obwohl keine
Abhilfe gegen einen Zustand zu existieren scheint, sie ist dennoch
vorhanden und wird letztlich eines Tages sichtbar werden. Ist die
Regierung grausam, ist das leben des Regenten nicht sicher. Wenn man
die Steuern zu hoch ansetzt, werden die Zölle nichts einbringen.
Wenn das Strafgesetz zu hart ist, werden die Geschworenen sich
zurückhalten. Wenn das Gesetz zu milde ist, kommt die Blutrache
auf. Wenn die Regierung eine schreckensvolle Demokratie praktiziert,
wird dem Druck durch ein erhöhtes Maß von Energie der
Bürger widerstanden und das politische Leben nimmt
leidenschaftliche Züge an. Das wahre Leben und der Erfolg des
Menschen scheint den extremen Zufällen des Glücks oder
Unglücks Trotz zu bieten und sich mit Gelassenheit in allen
Wechsellagen des Lebens zu behaupten. Unter allen
Regierungsformen bleibt der Einfluß des Charakters derselbe.
Diese Erscheinungen beweisen, daß sich das Weltall auch in seinen
kleinsten Teilen darstellt. Jedes Ding in der Natur verfügt
über alle Kräfte der Natur. Alles ist aus einem
geheimnisvollen Stoff gemacht. Der Naturforscher erblickt in jeder
Abwandlung ein und dasselbe Urbild. Jede Beschäftigung -
Handel, Kunst, Dienstleistungen - ist ein Inbegriff der Welt und steht
in Wechselbeziehungen zu allen anderen. Eine jede Zeit ist ein
vollständiges Sinnbild des menschlichen Lebens, seines Guten und
Bösen, seiner Versuchungen, seiner Feinde, seines Lebenslaufes und
seines Endes. Und jede Handlung muß irgendwie dem ganzen Menschen
entsprechen und sein Schicksal erkennen lassen.
Die Welt spiegelt sich selbst in einem Tautropfen
Die Welt spiegelt sich selbst in einem Tautropfen. Mit dem Mikroskop
läßt sich kein Infusionstierchen finden, das wegen seiner
Kleinheit weniger vollkommen wäre. Augen, Ohren, Geschmack,
Geruch, Bewegung, Widerstand, Eßlust und die Organe der
Fortpflanzung, die den Fortbestand garantieren, alle finden noch in den
kleinsten Geschöpfen Raum genug. So legen auch wir unser Leben in
jede Handlung. Die wahre Lehre von der Allmacht ist die, daß Gott
sich mit all seinen Kräften in jedem Moos und in jedem
Spinnengewebe offenbart. Das Weltall ist etwas Belebtes. Alle Dinge
haben einen moralischen Zweck. Der Geist, der sich unserem Innern als
eine Empfindung darstellt, ist außerhalb unseres Innern ein
Gesetz. Wir verspüren seinen Einfluß. In der Geschichte
können wir seine verhängnisvolle Kraft wahrnehmen; er
erfüllt die Welt und die Welt wurde durch ihn gestaltet. Die
Gerechtigkeit kommt nicht zu kurz, sondern auf allen Lebensgebieten
bleibt ihr Gleichgewicht letzten Endes erhalten. Die Würfel Gottes
fallen immer auf die richtige Seite. Die Welt gleicht einem Einmaleins
oder einer mathematischen Gleichung, die, wie man sie auch nimmt, sich
selbst im Gleichgewicht hält. Welche Zahl du auch nimmst, stets
wird ihr tatsächlicher Wert, nicht mehr und nicht weniger, zu dir
zurückkehren. Jedes Geheimnis wird offenbar, jedes Verbrechen
bestraft, jede Tugend belohnt, jedes Unrecht gemildert, im stillen,
aber sicher.
Die Natur korrigiert unsere Handlungen
Jede Tat belohnt oder bestraft sich selbst oder mit anderen Worten, sie
ergänzt sich auf zweifache Weise; zuerst in dem Ding selbst oder
in der verborgenen Wirklichkeit, zweitens in den Umständen oder in
einer äußerlich sichtbaren Weise. Unter letzterer verstehen
die Menschen die Vergeltung. Die ursächliche Vergeltung aber
liegt in den Dingen selbst und wird durch den Geist erkannt, durch die
Seele empfunden. Die Vergeltung, soweit sie die äußeren
Umstände betrifft, wird durch den Verstand wahrgenommen, sie ist
von dem Ding selbst nicht zu trennen, tritt aber oft erst nach langer
Zeit ein und wird deshalb oft erst nach Jahren erkennbar. Die
eigentliche Strafe mag der Tat erst nach langer Zeit folgen, aber sie
folgt ihr unweigerlich, weil sie jene begleitet. Während die Welt
ein Ganzes ist und jeder Teilung widerstrebt, suchen wir nur
,,teilweise" zu handeln und trachten danach, abzusondern und uns zu
bereichern. Zum Beispiel um die Sinne zu befriedigen, trennen wir
das sinnliche Vergnügen von den Bedürfnissen des
Charakters. Der Scharfsinn des Menschen war immer der Lösung eines
Problems gewidmet, nämlich der Frage, wie es möglich sei, das
sinnlich Angenehme, das sinnlich Starke, das sinnlich
Glänzende von dem sittlich Guten, Tiefen und Schönen zu
trennen. Die Seele sagt: ,,Iß". Der Körper dagegen will sich
gütlich tun. Die Seele sagt: ,,Mann und Weib sollen ein Fleisch
und ein Geist sein." Der Körper dagegen wünscht nur die
Vereinigung des Fleisches. Die Seele sagt: ,,Herrscht über alle
Dinge um der Tugend willen." Der Körper dagegen wünscht die
Macht um seiner selbst willen. Der Geist strebt mit aller Kraft danach,
in allen Dingen zu leben und zu wirken. Er allein möchte die
einzige Wirklichkeit sein. Alle Dinge sollen sich nach ihm richten:
Gewalt, Vergnügen, Wissen, Schönheit. Der einzelne Mensch
trachtet danach, jemand zu sein, etwas zu gelten, sich Hab und Gut
anzueignen und bei allem, was er tut, sei es reiten, sich kleiden,
essen oder herrschen, um seiner selbst willen zu handeln. Die Menschen
möchten groß sein und Ämter, Reichtum, Macht und Ruhm
erwerben. Sie glauben, groß zu sein, bedeute, eine Seite der
Natur zu besitzen, nämlich die angenehme, ohne die andere Seite,
die unangenehme. Der immer währende Versuch, das eine von dem
anderen zu trennen, ist niemals erfolgreich. Das geteilte Wasser
fließt hinter unserer Hand immer wieder zusammen.
Vergnügliche Dinge verlieren das Angenehme, nützliche
ihren Nutzen und gewichtige Dinge ihre Bedeutung, sobald wir versuchen,
sie von dem Ganzen zu trennen. Wir können die Dinge ebenso wenig
halbieren und das den Sinnen Angenehme bekommen, wie wir nie an ein
Inneres gelangen können, das kein Äußeres hat, ebenso
wenig können wir ein Licht ohne Schatten finden. Das Leben umgibt
sich selbst mit den Bedingungen, die sich nicht übergehen lassen.
Der Törichte versucht, sie zu umgehen, ein anderer prahlt,
daß er sie nicht kenne und sie ihn nichts angehen, aber die
Prahlerei ist bloß ein Lippenbekenntnis, in seiner Seele
spürt er die unausweichlichen Gegebenheiten. Wenn er ihnen auf
eine Weise anscheinend entkommen ist, so hat er sich in Wirklichkeit
selbst geschadet, ist vor sich selbst geflohen, und die Vergeltung
bleibt nicht aus. Der menschliche Geist trägt diesen Tatsachen
Rechnung: in den Sagen und Mythen, in der Geschichte, in den
Gesetzen, in den Sprichwörtern, in der Literatur verleiht man
ihnen Ausdruck. Alles hat zwei Seiten, eins steht gegen das andere. Wie
du mir, so ich dir, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Maß für
Maß, Liebe für Liebe, gib und dir wird gegeben. Wer eine
Kette um den Nacken eines Sklaven legt, schlingt das andere Ende um
seinen Hals. Alle diese Äußerungen entstanden, weil sie das
Leben widerspiegeln. Unsere Handlungen werden gegen unseren
Willen durch das Gesetz der Natur korrigiert.
Die Taten richten sich auf die Pole der Welt aus
Wir trachten nach kleinen Zielen, die abseits des Allgemeinwohls
liegen, aber unser Handeln richtet sich von selbst durch einen
unwiderstehlichen Magnetismus auf die Pole der Welt aus. Ein
Mensch kann nicht sprechen, ohne sich selbst zu charakterisieren. Mit
oder ohne Absicht zeichnet er mit jedem Wort, das er spricht, für
seinen Partner ein Porträt seines Wesens. Jede Meinung wirft ein
Licht auf den, der sie äußert. Niemand kann Unrecht tun,
ohne Unrecht zu leiden. Kein Mensch war jemals auf irgend eine Art
stolz, ohne daß es für ihn nachteilig war. Wer sich im
gesellschaftlichen Leben hochmütig abkapselt' übersieht,
daß er sich selbst des Vergnügens begibt, indem er versucht,
es sich allein anzueignen. Wer auf religiösem Gebiet unduldsam
ist, vergißt, daß er sich selbst die Himmelstür
verschließt. Behandele die Menschen wie Spielfiguren und du wirst
nicht besser als sie selbst. Wenn du nicht an ihr Herz denkst, wirst du
dein eigenes verlieren. Die Sinne möchten aus allen Personen, aus
Frauen und Kindern, aus den Armen nur bloße Dinge machen. Alle
Verletzungen der Liebe und der Billigkeit in unseren sozialen
Verhältnissen rächen sich sehr bald. Ihre Strafe ist die
Furcht. So lange ich zu meinem Nachbarn in natürlichen
Beziehungen stehe, empfinde ich kein Unbehagen, wenn ich ihm
begegne. Wir kommen zusammen, wie die Wasser zusammentreffen oder wie
sich zwei Luftströme begegnen, einander vollkommen
durchdringend. Aber sobald wir die Einfachheit aufgeben, in
Halbheiten verfallen oder uns etwas unterläuft, das nur für
uns gut ist, sogleich fühlt der Nachbar das Unrecht; er weicht
ebenso vor mir zurück, wie ich vor ihm. Seine Augen suchen die
meinigen nicht mehr, Zwiespalt herrscht zwischen uns, Groll ist in ihm,
Furcht iSt in mir. Alle alten gesellschaftlichen Fehler, alle
ungerechten Anhäufungen von Reichtum und Macht rächen sich
in gleicher Weise. Die Furcht ist eine scharfsinnige
Lehrerin und der Vorbote aller Revolutionen. Eines lehrt die
Furcht, nämlich daß dort, wo sie auftritt, etwas nicht
in Ordnung ist. Sie ist eine Aaskrähe' und wenn man auch
nicht genau sieht, auf welchen Raub sie aus ist, so lauert doch
irgendwo in ihrer Nähe der Tod. Unser Eigentum ist
furchtsam, unsere Gesetze sind furchtsam, unsere gebildeten
Klassen sind furchtsam. Die Furcht hat oft lange Zeit über
einem Staatswesen, und dessen Reichtümern Unheil
verkündend geschwebt. Jener düstere Vogel ist nicht ohne
Grund da. Er zeigt großes Unrecht an, das untersucht
werden muß. Gleicher Natur ist die Furcht vor einem
Wechsel, die uns beschleicht, sobald wir an den Grenzen
unseres Tuns angelangt sind. Der Ring des Polykrates, die
Scheu vor dem Glück, der Instinkt, der großmütige
Seelen sich selbst eine freiwillige Askese auferlegen
läßt, all das ist nichts anderes als ein Anzeichen des
ungenügenden Gleichgewichtes im Herzen und im Geist des
Menschen. Welterfahrene Menschen wissen, daß es am besten
ist, alles auf Heller und Pfennig zu bezahlen und daß
man Kleinlichkeit oft teuer bezahlt. Wer borgt, stürzt
sich selbst in Schulden. Hat ein Mensch etwas gewonnen, der
hundert Wohltaten empfangen und keine erwiesen hat? Ein kluger
Mann wird diese Lehre auf alle Lebenslagen ausdehnen und
wissen, daß es ein Akt der Klugheit ist, jeden Anspruch zu
prüfen und jede gerechte Anforderung zur rechten Zeit und
angemessen zu bezahlen. Bezahle immer, denn früher oder
später mußt du deine ganze Schuld bezahlen. Personen
oder Ereignisse mögen eine Zeit lang zwischen dir und
der Gerechtigkeit stehen; aber das ist nur ein Aufschub.
Schließlich mußt du doch deine ganze Schuld bezahlen.
Wenn du weise bist, wirst du einen Vorteil fürchten, der
dich nur noch mehr in Anspruch nimmt. Wohltun ist zwar der
Endzweck der Natur, aber für jede empfangene Wohltat wird
eine indirekte Abgabe erhoben. Der ist groß, der die meisten
Wohltaten erweist. Der ist niedrig - und das ist das einzig niedrige im
ganzen Weltall - der Wohltaten empfängt und keine erwidert.
Für gewöhnlich können wir denen keine Wohltaten
erweisen, von denen wir sie empfangen. Aber die genossene Wohltat
muß irgend einem Menschen gegenüber wieder erwiesen
werden, und zwar auf Heller und Pfennig. Hüte dich, daß
nicht zuviel Besitz in deiner Hand bleibe. Er wird schnell verderben
und den Würmern verfallen. Verausgabe ihn rasch auf irgend eine
wohltätige Weise.
Über die Arbeit wachen unerbittliche Gesetze
Über die Arbeit wachen dieselben unerbittlichen Gesetze. Der
Kluge sagt, daß die teuerste Arbeit am billigsten sei. Was wir in
einem Besen, einer Matte, einem Wagen oder einem Messer kaufen, ist
nichts weiter, als die Anwendung von gesundem Menschenverstand und
Geschicklichkeit auf einen Gegenstand unseres täglichen Bedarfs.
Du kannst nichts besseres tun, als für deinen Garten, dein Haus,
deine Geschäfte und deine Bedürfnisse geschickte Hände
und gesunden Verstand einzukaufen. Dadurch vervielfältigst du
deine Gegenwart und breitest dich über deinen ganzen Besitz aus.
Weil aber alle Dinge zwei Seiten haben, sind bei der Arbeit wie im
Leben bewußte Täuschungen immer nachteilig. Der Dieb
bestiehlt sich selbst, und der Betrüger betrügt sich selbst.
Denn der wirkliche Lohn der Arbeit sind Wissen und Tugend, deren
äußere Zeichen wiederum Wohlstand und Kredit sind. Diese
Kennzeichen mögen wie Papiergeld nachgemacht oder gestohlen
werden, aber das, was sie darstellen, nämlich Wissen und Tugend,
kann weder nachgemacht noch gestohlen werden. Den eigentlichen Zwecken
der Arbeit kann nicht anders entsprochen werden, als durch wirkliche
Anstrengungen des Geistes und durch eine Tätigkeit, die auf
reinen Motiven beruht. Der Betrüger, 4er Wortbrüchige,
der Spieler können durch ihr unrechtes Handeln nicht die
materielle und sittliche Genugtuung erfahren, die der Arbeitsame durch
seine ehrbaren Bemühungen erlangt. Das Gesetz der Natur lautet:
,,Tue eine Sache und du wirst den Gewinn davon haben; diejenigen aber,
die die Aufgabe nicht bewältigen, haben auch nicht den Nutzen
davon. Die menschliche Arbeit in allen ihren Formen - vom Zuspitzen
eines Pfahles bis zum Aufbau einer Stadt oder der Gestaltung eines Epos
- ist eine einzige ungeheure Illustration des im Weltall herrschenden
vollkommenen Ausgleichs. Sie lehrt das vollkommene Gleichgewicht von
Geben und Nehmen, daß jedes Ding seinen Preis hat und daß,
wenn dieser Preis nicht bezahlt wird, nicht jenes Ding, sondern etwas
anderes erlangt wird. Es ist unmöglich, irgend etwas zu bekommen,
ohne den angemessenen Preis dafür zu bezahlen. Das Bündnis
zwischen Tugend und Natur verpflichtet alle, dem Laster gegenüber
eine feindliche Haltung einzunehmen. Die erhabenen Gesetze und
Kräfte der Welt verfolgen und strafen den Verräter. Er
erkennt, daß die Dinge um der Wahrheit und des Wohltuns willen da
sind und daß sich in der weiten Welt kein Versteck findet, um
einen Schurken für immer und ewig zu verbergen. Begehe ein
Verbrechen, und die Welt scheint aus Glas zu sein. Begehe eine
Untat, und es scheint, als ob ein Kleid aus Schnee die Erde bedecke,
das jede Spur verrät. Du kannst das gesprochene Wort nicht
zurücknehmen, du kannst die Fußspur nicht verwischen, du
kannst die Leiter nicht hinaufziehen, um die Verfolgung unmöglich
zu machen. Immer wird ein zu verurteilender Umstand früher
oder später ruchbar werden - und sei es, daß er dich bis an
das Ende deiner Tage in deinem Innern verfolgt.
Liebe und du wirst wieder geliebt werden
Andererseits steht das Gesetz mit gleicher Gewißheit auf Seiten
allen rechtmäßigen Handelns. Liebe und du wirst
schließlich wieder geliebt werden. Der gute Mensch besitzt das
Gute als etwas Absolutes, das gleich dem Feuer jedes andere Ding in ein
Wesen gleicher Art umformt' so daß es unmöglich ist, ihm
irgend etwas Böses zu tun. Unglücksfälle aller Art, wie
Krankheit, Beleidigung und Armut lassen letzten Endes ihr Gutes
erkennen. Die Guten ziehen selbst aus Schwächen und Mängeln
Nutzen. Wie je ein Mensch irgend eine Art von Stolz besaß, die
ihm nicht nachteilig gewesen wäre, so hat auch nie ein Mensch
einen Fehler gehabt, der ihm nicht in irgendeiner Weise nützlich
gewesen wäre. Der Hirsch in der Fabel bewunderte sein Geweih und
war unzufrieden mit seinen grazilen Läufen. Aber als der
Jäger kam, retteten sie ihn. Ein anderes Mal, als er sich im
Dickicht verfangen hatte, wurde ihm sein Geweih zum Verderben. Ein
jeder Mensch hat in seinem Leben auch Veranlassung, für seine
Fehler und Schwächen dankbar zu sein. Wie niemand eine solche
Wahrheit verstehen kann, bevor er sie durchlebt hat, so hat auch kein
Mensch ein richtiges Verständnis für seine Hemmungen und
Begabungen, bis er unter den einen gelitten und erfahren hat, wie
die anderen über seine eigenen Mängel triumphierten. Wenn
sein Temperament ihn daran hindert, die Gesellschaft anderer Menschen
zu suchen, so wird er dadurch dazu neigen, sich selbst zu unterhalten
und die Fähigkeit zur Selbsthilfe zu entwickeln. Auf diese
Weise verbessert er sein Wesen, der verwundeten Auster gleich, die eine
Perle ansetzt.
Unsere Stärke erwächst aus unserer Schwäche
Unsere Stärke erwächst aus unserer Schwäche. Die
Auflehnung, die selbst aus geheimen Kräften erwächst, erwacht
nicht eher, als bis wir durch die Verhältnisse aufgestachelt und
gereizt werden. Ein großer Mann ist immer bereit, auch klein zu
sein. Solange Vorteile und eine günstige Position ihm ein gutes
Ruhekissen geben, läuft er Gefahr, nachzulassen. Wenn er aber
gestoßen und bedrängt wird und eine Niederlage erleidet,
dann hat er Gelegenheit, etwas dazu zu lernen; dann ist er auf seinen
Witz und seine Mannhaftigkeit angewiesen; er hat neue Erkenntnisse
gewonnen, seine Unwissenheit erkannt, ist von der Torheit der
Einbildung geheilt, hat Gleichmut und Geschicklichkeit erworben. Der
kluge Mann stellt sich selbst auf die Seite seiner Angreifer. Es ist
mehr sein Interesse als das ihrige, seine schwache Stelle
herauszufinden. Die Wunde heilt und die abgestorbene Haut fällt
von ihm ab, und wenn sie triumphieren wollen, siehe da, so ist er ihnen
unverwundet entkommen. Tadel iSt gesünder als Lob. In der Regel
ist jedes Übel, dem wir nicht unterliegen, nützlich. Wie die
Ureinwohner der Südseeinseln glaubten, daß die Stärke
und Tapferkeit des getöteten Feindes auf sie übergehe, so
gewinnen wir Stärke aus jeder Versuchung, der wir widerstehen.
Dieselben Wächter, die uns vor Unglück, Mangel und
Feindschaft bewahren, verteidigen uns auch, wenn wir es wollen, gegen
Egoismus und Betrug. Riegel und Gitter sind nicht die besten unserer
Institutionen, noch ist Verschlagenheit in geschäftlichen
Angelegenheiten ein Zeichen von Weisheit. Die Menschen leiden ein Leben
lang unter dem törichten Aberglauben, daß sie betrogen
werden können. Aber es ist ebenso unmöglich, daß ein
Mensch durch irgend jemand außer durch sich selbst betrogen wird,
wie es für ein Ding unmöglich ist, zur selben Zeit zu
sein und auch nicht zu sein.
Immer ist eine dritte Partei zugegen
Bei allen Handlungen ist eine dritte Partei zugegen. Die Natur und der
Geist der Dinge übernehmen selbst die Garantie für die
Erfüllung eines jeden Vertrages, sodaß der in ehrlicher
Absicht geleistete Dienst nie umsonst sein kann. Wenn du einem
undankbaren Herrn dienst, diene ihm um so mehr. Setze Gott in dein
Schuldguthaben ein. Je länger dir die Zahlung vorenthalten
wird, um so besser für dich, denn Zins und Zinseszins hält
dieser Schatzkanzler bereit. Die Geschichte der Verfolgungen ist
eine Geschichte der Bemühungen, die Natur zu betrügen, Wasser
bergan laufen zu lassen oder einen Strick aus Sand zu drehen. Es macht
dabei keinen Unterschied, ob die Täter einer oder viele sind, ein
Tyrann oder der Pöbel. Der Pöbel ist eine Vereinigung vieler,
die sich selbst freiwillig der Vernunft berauben und widersinnig
handeln, eine Menschengattung, die sich selbst zum Tier erniedrigt.
Seine Handlungen sind vernunftlos wie sein ganzes Wesen. Der Pöbel
verfolgt ein Prinzip; er will das Recht geißeln; er möchte
die Gerechtigkeit verunglimpfen, indem er Feuer und Gewalttat
über die Häuser der Gerechten bringt. Das gleicht den
Kindereien der Knaben, die mit Feuerspitzen herumlaufen, um die
Morgenröte auszulöschen. Der unverletzliche Geist kehrt gegen
die Unrechttuenden ihre eigenen Waffen. Der Märtyrer kann
nicht entehrt werden. Jeder gegen ihn geführte Schlag wird seinen
Ruhm verkünden, jedes Gefängnis ein rühmlicher
Aufenthalt sein, jedes verbrannte Buch oder Haus erleuchtet die Welt,
jedes unterdrückte oder verbotene Wort hallt von den Enden der
Erde wider. Stunden der geistigen Gesundung und Besinnung, in den die
Wahrheit erkannt und die Märtyrer gerechtfertigt werden, kommen
stets für die einzelnen ebenso wie für die menschlichen
Gemeinschaften. Die Bedeutungslosigkeit der Umstände Alle
Dinge lehren die Bedeutungslosigkeit der Um stände. Der
Mensch ist alles. Jedes Ding hat zwei Seiten, eine schlechte und
eine gute. Jeder Vorteil hat seinen festen Preis. Ich lerne
zufrieden zu sein. Aber die Lehre vom Ausgleich ist keine Lehre
der Gleichgültig keit. Für den Geist gibt es
noch etwas Höheres als den Ausgleich, nämlich seine
eigene Natur. Der Geist, die Seele lebt. Das absolute Sein oder
Gott iSt nicht eine Beziehung oder ein Teil, sondern das Ganze.
Sein bedeutet uneingeschränkte Bejahung, die jede Verneinung
ausschließt, die in sich selbst ruht und alle
Verhältnisse, alle Teile und Zeiten umfaßt. Natur,
Wahrheit und Tugend haben dort ihren Ursprung. Das Laster ist
gleichbedeutend mit dem Mangel oder Schwinden jener
Eigenschaften. Das Nichts und die Lüge können zwar als
große Macht oder Schatten bestehen, vor dem sich - wie auf
einem Hintergrund - das lebende Weltall abzeichnet, aber sie sind
unfähig, irgend etwas zu erzeugen, etwas zu bewirken, denn
sie sind bedeutungslos Wir vermissen bei bösen Taten
oft die Vergeltung, wenn der Übeltäter seinen Lastern
weiter frönt und nicht so bald auf eine sichtbare Weise in
eine Krise kommt oder bestraft wird. Hat er aber deshalb das
Gesetz überli stet? So viel Bosheit oder Lüge er
in sich trägt, so weit weicht er von der Natur ab. In
gewisser Weise wird schon hierin für den Nachdenklichen eine
Vergeltung des Unrechts liegen; aber wenn wir es auch nicht
sehen sollten, jede Beeinträchtigung des natürlichen
Lebensgefühls gleicht die ewige Rechnung aus.
Ebensowenig kann man andererseits sagen, daß der Vorteil
des Rechthandelns durch irgendeinen Verlust erkauft werden
muß. Es gibt keine Strafe für Tugend und Weisheit, sie
sind vielmehr eine reine, uneingeschränkte Vertiefung des
Seins. In einer tugendhaften Handlung verwirkliche ich mich, durch eine
tugendhafte Handlung nütze ich der Welt. Ich dringe vor in
Wüsten, die ich dem Chaos und dem Nichts entreiße, und sehe
die Finsternis sich auf die Grenzen des Horizonts zurückziehen.
Für die Liebe gibt es kein Übermaß, ebensowenig wie
für das Wissen oder die Schönheit, wenn diese Begriffe in
ihrer höchsten Bedeutung erkannt werden. Der Geist kennt keine
Grenzen, er tritt stets für den Optimismus ein und gegen den
Pessimismus auf.
Leben ist ein Fortschreiten
Das Leben des Menschen ist ein Fortschreiten und kein Stillstand. Sein
Instinkt ist Vertrauen. Jedes materielle Gut hat seinen Preis und
faßt, wenn ich es ohne Verdienst und Mühe erwarb, keine
Wurzel in mir, sondern der nächste Wind wird es fortwehen. Aber
all das Gute der Natur kann sich die Seele aneignen und es wird ihr
Eigentum bleiben, wenn wir dafür mit der gesetzlichen Münze
der Natur, das heißt mit Arbeit, wie Kopf, Hand und Herz sie
leisten, bezahlt haben. Ich wünsche mir nicht mehr ein Gut, das
ich nicht verdiene, z. B. einen vergrabenen Topf mit Geld zu finden, da
ich weiß, daß er neue Lasten im Gefolge hat. Ich
wünsche mir nicht länger äußerliche Güter -
weder Besitz noch Ehren noch Macht über Personen. Der Gewinn ist
nur scheinbar, der Preis aber gewiß. Aber nichts braucht bezahlt
zu werden für die Erkenntnis, daß das Prinzip des Ausgleichs
besteht und es nicht wünschenswert ist, Schätze
anzuhäufen. Die Freude darüber gewährt mir einen
heiteren und stetigen Frieden. Ich verkleinere die Grenzen eines
möglichen Mißgeschickes und verstehe die Weisheit des
Heiligen Bernhard: ,,Niemand außer mir selbst kann mir schaden;
den Schaden, den ich erdulde, trage ich in mir und nie leide ich
wirklich, außer durch meine eigene Schuld.“ In der Natur
der Seele liegt der Ausgleich für die Ungleichheit der
Umstände. Die Liebe hebt sie auf, wie die Sonne den Eisberg
schmilzt. Wenn Herz und Geist der Menschen eins sind, dann verliert
sich die Bitterkeit von Dein und Mein. Es liegt in der Natur des
Geistes und der Seele, sich alle Dinge anzueignen. Jesus und
Shakespeare sind Fragmente der Seele und dadurch, daß ich sie
verehre, erobere ich sie gewissermaßen und mache sie mir geistig
zu eigen. Derart ist auch die natürliche Geschichte des
Unglücks. Die Zufälle des Schicksals, die in kurzen
Zwischenräumen das Glück des Menschen zerstören, sind
Anzeichen einer Natur, deren Gesetz das Wachstum ist. Jeder Geist
verläßt zufolge dieser tiefinnerlichen Notwendigkeit das
ganze System der Dinge, seine Freunde, sein Heim, seine Heimat, Gesetze
und Glauben; so wie ein Schalentier sein schönes steinernes
Gehäuse verläßt, weil es zu klein geworden ist, und
sich langsam ein neues Haus baut. Im Verhältnis zu der geistigen
Kraft des Individuums häufen sich diese Wandlungen, bis sie
schließlich in einem glücklicheren Geist unaufhörlich
werden. Für einen solchen Geist werden dann alle weltlichen
Beziehungen nur zu einem losen Gewand, gewissermaßen nur zu
einer durchsichtigen sich wandelnden Hülle, durch die sich die
lebendige Form erkennen läßt, während sie bei den
meisten Menschen zu einem starren fremdartigen Gewebe wird, das nach
und nach entstanden ist, keinen bestimmten Charakter hat, in dem der
Mensch wie in einem Gefängnis schmachtet. Nur auf die geschilderte
Weise iSt eine Erweiterung des Wesens möglich; der Mensch von
heute erkennt in sich dann kaum noch denjenigen von gestern. Und so
sollte auch die äußere Lebensgeschichte eines Menschen in
unserer Zeit sein, nämlich ein fortgesetztes Ablegen von
überholten Umständen und Verhältnissen, so wie man
seine Kleidung erneuert. Aber für uns in unserem
rückständigen Wesen, das verharrt und nicht fortschreitet,
der göttlichen Ausdehnungskraft nur Widerstand leistet, anstatt
Hand in Hand mit ihr zu gehen, für uns kommt diese Entwicklung nur
stoßwei se mit Erschütterungen. Wir können uns
nicht von unseren Freunden trennen. Wir können unsere Engel nicht
von uns lassen. Wir verstehen es nicht, daß sie bloß
deshalb von uns gehen, damit Erzengel an ihre Stelle treten. Wir sind
große Verehrer des Alten. Wir glauben nicht an die
Reichtümer des Geistes und der Seele, an die ihnen eigene
Unsterblichkeit. Wir glauben nicht, daß im Heute eine Kraft ist,
die es dem schönen Gestern gleichtun oder es neu erschaffen
könnte. Untätig verweilen wir in den Trümmern des alten
Heimes, wo wir einst Brot, Obdach und Werkzeuge für uns fanden und
glauben nicht, daß der Geist uns von neuem nähren,
schützen und stärken könne. Wir halten es für
unmöglich, etwas zu finden, das uns gleich teuer, lieb und
angenehm wäre. Aber unser Verharren hilft uns nichts. Die Stimme
des Allmächtigen sagt: ,,Stehe auf und schreite vorwärts!"
Aber auch der im Unglück liegende Nutzen wird einmal für den
Verstand erkennbar, wenn auch meist erst nach langen Zeiträumen.
Ein Fieber, eine Verstümmelung, eine grausame
Enttäuschung, ein Verlust an Vermögen oder Freunden erscheint
im ersten Augenblick als unersetzlicher Verlust. Aber die Jahre
werden die heilende Kraft offenbaren, die allen Dingen zugrunde
liegt. Der Tod einer geliebten Frau, eines Bruders, eines teuren
Freundes oder eines anderen geliebten Menschen, der zuerst nur ein
Verlust zu sein schien, nimmt bisweilen später die Gestalt eines
Ratgebers oder eines Schutzgeistes an. Denn gewöhnlich bewirkt er
Umwälzungen in unserer Lebensführung, bringt eine Epoche
der Kindheit oder der Jugend zum Abschluß, bricht eine gewohnte
Beschäftigung ab oder beendet eine bestimmte Lebensphase und
begünstigt dadurch neue Lebensumstände, die die Entwicklung
des Charakters fördern. Der Tod eines uns Nahestehenden
veranlaßt oder erzwingt oft das Zustandekommen neuer
Beziehungen und die Auswirkungen neuer Einflüsse, die sich in
späteren Jahren segensreich erweisen können.
Ralph Waldo
Emerson (*25.5.1803 in Boston,t27. 4. 1882 in Concord bei Boston) war
der Sohn eines früh verstorbenen Geistlichen. Wie seine Vorfahren
wurde er Prediger der Unitarischen Kirche und arbeitete einige Jahre
als Lehrer und Geistlicher. 1832 gab er sein Amt auf, weil die starre
Lehre der Kirche seinem freien Geist nicht genügte. Er nahm
Abschied von seiner Gemeinde, um als ungebundener Schriftsteller und
Redner zu leben, damals eine nicht übliche Existenz, die ihm
zeitweilig wirtschaftliche Sorgen bereitete. Seitdem, bis zu seinem 79.
Lebensjahr, gingen von ihm Gedanken aus, die auch heute für unser
Leben Gültigkeit haben. Nach Emerson ist der Mensch berufen,
eins zu werden mit dem Universum, seine Seele mit der Seele des Alls zu
verbinden, und nicht nur seine Seele, sondern auch seinen Geist.
Emerson ist der Überzeugung, daß das All von einem geistigen
Gehalt und einem wesenhaften Sinn erfüllt ist, den der Mensch bei
der Bereitschaft zur Einfühlung und durch innerliche Versenkung
erkennen kann. Selbständigkeit, Wahrheit, Harmonie und Klugheit
sind die Lebenselemente, die den geistigen Menschen formen. Der
Schlüssel zum Glück, sagt Emerson, ist das Bestreben, unser
Denken mit dem göttlichen Geist, unser Leben mit dem Universum in
Einklang zu bringen. Die beste Übung dazu ist, sich in die Natur
zu vertiefen und die materiellen Dinge, die im Sattel sitzen und die
Menschheit reiten, nicht zu überschätzen. Vorträge, die
ihn jahrzehntelang immer wieder durch den Nordosten und den
Mittelwesten der Vereinigten Staaten von Amerika führten und die
von ihm später in Buchform zu größeren Betrachtungen
zusammengefaßt wurden, trugen seinerzeit dazu bei, in der
verhältnismäßig jungen amerikanischen Nation
Optimismus, Wirklichkeitssinn und Selbstvertrauen zu fördern. Als
Meister geistvoller Essays, deren Schönheit, Einfachheit und
Tiefgründigkeit schon zu seinen Lebzeiten weithin erkannt wurden,
erwarb er sich in Europa und nicht zuletzt auch in Deutschland viele
Freunde.
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